Terroir
sind wir denn? Natürlich handelt es sich hier nicht um einen essentiellen Beitrag zur Weiterentwicklung der abendländischen Kultur. Aber das leisten die Tiefkühlpizzen auch nicht. Und ebenso wenig die aus dem billigen MP 3 -Player oder Handy plärrende, auf ein paar Bit heruntergesampelte Musik. Haben Flip-Flops etwa etwas mit traditionellem Schuhhandwerk zu tun? Aber sie schützen die Füße einer Milliarde Menschen auf dieser Erde vor Verletzungen. Sind sie Verrat an der Schuhkultur, der Anfang vom Ende des Abendlands? Solange sie nicht in einer edlen Holzschatulle mit den Insignien des Londoner Schumachers John Lobb aus der St. James Street verpackt und für über zweitausend Pfund verkauft werden, wer wollte oder sollte etwas gegen Flip-Flops haben?
Das Hohelied der Industrieproduktion singen heißt nicht, ihre Schattenseiten zu verleugnen: das menschliche Elend, die Verschwendung von Ressourcen und die Demontage des ökologischen Gleichgewichts. Diese Aspekte sind jedoch keine notwendigen und zwingenden Bestandteile der modernen Industriegesellschaft, sondern liegen in ihren politischen Rahmenbedingen begründet. Moderne Fundis, die kulturpessimistisch gegen die Industrie kämpfen, haben die politökonomische Forschung der letzten hundertfünfzig Jahre verpennt.
Mit einem Glas Champagner R. D. Jahrgang 1988 aus dem Hause Bollinger in der Hand als Retter der abendländischen Kultur gegen Industrieweine zu lästern ist nichts anderes als ein elitärer Taumeltanz auf einem menschenverachtenden Nebenkriegsschauplatz. Wer krokodiltränig mit Heile-Welt-Bildern spielt und alles „Moderne“, alles was laut, groß und edelstahlglitzernd ist und nicht dem Klischee des alten Winzers im Holzfasskeller entspricht, als schlecht und verwerflich brandmarkt, betreibt Volksverdummung. Und lenkt ab von dem wirklichen Problem: dem Betrug.
Ihm begegnet man beim Schlendern zwischen Supermarktregalen wie beim Stöbern in edlen Weinboutiquen. Überall auf der Welt. Weniger als Verstoß gegen die jeweiligen Weingesetze, obwohl viele der „legal“ hergestellten Weine bei strenger Auslegung allenfalls als „weinhaltige Getränke“ bezeichnet werden dürften. Der größte Betrug sind die ethischen Mogelpackungen, sind die Plastikweine, die, mit den Insignien der Weinkultur geschmückt, in tollen Flaschen mit edlen Etiketten als authentische und kulturell hochwertige Geschmackserlebnisse angeboten werden.
Aber warum sollte zu Zeiten, in denen Coca-Cola als „natürlich“ und Atomstrom als „ökologisch“ angepriesen wird, nicht auch Industrieware als „Terroir“ verkauft werden?
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D IE S TREITFRAGE BIO ODER NICHT BIO
IST S CHNEE VON GESTERN
Nicolas Joly
Auf einem Kongress in Chalon sur Saône attestierte der französische Agronom Claude Bourguignon 1990 den burgundischen Weinbergsböden ein geringeres bakterielles Leben als dem Wüstensand der Sahara. Es war eine Nachricht von der Sorte, die selbst in einer reizüberfluteten Medienlandschaft nicht sofort verpufft, sondern im Gegenteil bei vielen Menschen ankommt. Die Ökobewegung war endgültig in der gesellschaftlichen Mitte angekommen.
Es begann Anfang der 70 er-Jahre. Die vielen von der Studentenbewegung angestoßenen gesellschaftlichen Protestbewegungen begannen sich zu strukturieren. Frustriert wurden die meisten „vernünftig“ und arrangierten sich mit dem „System“, einige wenige schlossen sich dem bewaffneten Kampf an, andere setzten auf die Strategie, Sand im Getriebe zu sein, und machten Karriere in Parteien und Verbänden. Und eine große Gruppe machte sich auf, in unentfremdeten Lebensumständen in einer Landkommune erst einmal zu sich selbst zu finden. Weg von dem Geworfensein in der modernen Industriegesellschaft, in Harmonie mit der Natur mit den eigenen Händen arbeiten, wirklich frei sein – Träume und Sehnsüchte, die den modernen Menschen seit der Industrialisierung begleiten. Weg von der Maschine, weg von der Chemie. Hin zur guten Natur, zur Mutter Erde. Wie werden Kartoffeln gesetzt? Wie bäckt man Brot? Darf eine gespritzte Zitrone aus dem Supermarkt auf den Biokompost?
Die kiffende Landkommune gab es fast nur noch in der Bild -Zeitung. In den 70 er-Jahren wurde auf den alternativen Bauernhöfen diskutiert und gearbeitet. Viele Studenten absolvierten Praktika bei alten Ökos und machten dabei oft entsetzt Bekanntschaft mit wiehernden Rossen auf noch dampfender Scholle. Universitäten begannen, sich mit Umweltschutz und nachhaltiger
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