Terror: Thriller (German Edition)
Sankt-Pauls-Platz abgebogen. Jetzt haben sie’s plötzlich eilig, hab ich gedacht. Das Mädchen stand starr da wie eine Salzsäule und hat dem Mann nachgeguckt. Weil sie so verängstigt ausg’schaut hat, hab ich gedacht, ich muss ihr vielleicht helfen, und hab sie angesprochen. Ich hab sie gefragt, ob sie den Mann gekannt hat.
›Naa‹, hat sie gesagt. Sie hat tiefes Bayrisch gesprochen.
Sie hat erzählt, dass der Mann von der Theresienwiese her, aus dem Schatten der Bäume, auf den Bürgersteig getreten sei. Er sei plötzlich da gewesen, sie wäre fast mit ihm zusammengestoßen. Er habe sie an der Schulter gepackt und gesagt, dass sie auf keinen Fall weitergehen soll.
Als sie ihn gefragt hat, wieso, hat der Mann gesagt: ›Da vorn passiert gleich was‹, und ist zu dem BMW gerannt. Das muss alles so etwa um 22:15 Uhr gewesen sein.
›Da vorn‹ war der Haupteingang zur Wies’n. Das Mädchen hat gesagt, dass sie sich ›da vorn‹ mit ihrer Mutter treffen wollte, aber jetzt hat sie sich nicht getraut weiterzugehen. Ich habe sie gefragt, ob ich sie begleiten soll, aber sie hat gesagt, nein, sie bleibe lieber noch ein bisschen hier stehen.
Ich hatte dann keine Lust mehr zum Bummeln und bin über den Bavariaring rüber, um zur U-Bahn zu gehen. Ich hatte gerade die andere Straßenseite erreicht, als die Fensterscheiben im Haus vor mir in Flammen aufgingen. Eine weiße Lichtfontäne. Es hat einen Moment gedauert, bis ich begriffen hab, dass die Fensterscheiben nur spiegeln, was im Moment in meinem Rücken passiert. Also hab ich mich umgedreht, und da gab es einen Knall, und kurz darauf kam der Sturm. Von der Druckwelle. Ich hab mich richtig gegen den Wind stemmen müssen. Plastiktüten und Papier sind über den Bavariaring geweht worden. Plötzlich war der Ton weg. Ich hab mich gewundert, aber ich kam nicht auf die Idee, dass irgendwas mit meinen Trommelfellen nicht in Ordnung sein könnte. Ich hab’ mich gefühlt wie in Watte. Ich kann nicht sagen, ob Autos über den Bavariaring fuhren. Ich hatte das Gefühl, dass die Welt plötzlich still steht. Keine Autos, keine Menschen. Nur an das Mädchen kann ich mich erinnern. Sie stand noch immer auf der anderen Straßenseite, mir genau gegenüber. Der Wind hat ihr die Haare ins Gesicht geweht.
Dann hab ich aus dem Augenwinkel etwas Weißes gesehen, das auf mich zukam. Es war ein Schimmel. Er trabte mit anmutigen Bewegungen über den Bavariaring. Ich hab keinen Hufschlag gehört, nur ein dumpfes Dröhnen. Der Schimmel trabte an mir vorbei. Da erst hab ich gesehen, dass seine linke Flanke aufgerissen war. Die Gedärme sind rausgequollen.
Das Erste, was ich dann wieder hab hören können, waren die Schreie, und ich hab mir noch gedacht, weil die so ähnlich klangen, kommen die jetzt aus der Geisterbahn oder was?«
Kersting ließ die Papiere sinken, und Marc hatte das Gefühl, als habe ihm jemand die Kehle zugeschnürt. Schnell etwas trinken. Er griff nach seiner Kaffeetasse und setzte sie an die Lippen. Der Kaffee war nur noch lauwarm. Egal. Er nahm einen Schluck.
»Die Schreie sind nicht aus der Geisterbahn gekommen.« Kerstings Stimme zitterte. »Dreizehn Tote, zweihundertneunzehn teils schwer Verletzte, unter ihnen viele Kinder. Es war der größte Bombenanschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte.«
Pieve di Teco, Freitag, 4. Juni 2010, 17:43 Uhr
Mach schon, beschwor sie sich, du hast keine Zeit, jeden Moment kann Solina zurück sein oder noch schlimmer: der Mann mit den grauen Augen. Carla fühlte keine Kraft mehr im Arm, sie würde die Tür unmöglich aufziehen können, selbst wenn sie unverschlossen wäre.
Lieber Gott, bitte!
Die Klinke war kalt. Und dann zog sie – und die Tür ging auf.
»Komm, Anna! Schnell!« Sie sah sich um. Keine Verfolger. Der lange Krankenhausflur hinter ihnen war menschenleer, die zwei silbernen Rollwagen mit den Essenstabletts wie hastig hingewürfelt. Sie standen schräg zueinander, unordentlich; für einen Moment spürte Carla den Impuls, hinzugehen, den Gang hinunterzulaufen, die ganzen vierzig Meter – was für ein ewig langer Gang! – und sie gerade zu rücken, einen neben den anderen. Ordnung schaffen! Sie wollte Ordnung!
Sie packte Annas Arm und zog sie hinter sich her ins Freie. Sie rannten die Straße hinunter, so schnell das mit Anna möglich war, bis sie einen großen Parkplatz erreichten. Rechterhand die Stadtmauer, links die Grundschule, verwaist um diese Zeit; die Kinder wurden bereits um 16 Uhr von
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