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Terror: Thriller (German Edition)

Terror: Thriller (German Edition)

Titel: Terror: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Maurer
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den gelben Schulbussen abgeholt und auf die umliegenden Dörfer verteilt. Carla sah sich um, was machen wir jetzt, dachte sie, lass dir was einfallen! Anna, im weißen Krankenhausnachthemd, stand stocksteif neben ihr. Carla legte den Arm um ihre Schulter, Anna reagierte nicht. Hatte sie die Berührung bemerkt? Was bekam sie überhaupt mit von allem, was hier gerade passierte? Anna musste aus diesem Nachthemd raus. Und vor allem mussten sie hier weg, jeden Moment konnten die drinnen ihr Verschwinden bemerken. Was würde dann passieren? Sie wollte den Mann mit den grauen Augen nicht wütend erleben, sie kannte ihn nur freundlich lächelnd, und das war schlimm genug.
    »Wir gehen jetzt einkaufen, Anna, ja?«
    Keine Reaktion. Also nahm sie Anna bei der Hand und zog sie mit sich, zum Tor in der Stadtmauer. Es war kühl. Wenn sie Kleider für Anna bekommen wollten, mussten sie das jetzt angehen, bevor die Carabinieri den Ort absuchen würden … würden sie das tun?
    Sie passierten das Stadttor und traten auf den Platz vor der Kirche. Er war mit runden Steinen gepflastert, ein Meer kleiner, glänzender Schildkrötenpanzer, über das Anna mit ihren nackten Füßen hinwegbalancierte. Das ging viel zu langsam, sie kamen kaum vorwärts. Sie musste Anna irgendwo zurücklassen und alleine einkaufen gehen. Es wäre sowieso viel zu auffällig, wenn sie mit einem fünfjährigen Mädchen im Nachthemd in einem Bekleidungsgeschäft auftauchte. Aber konnte sie Anna allein lassen? War das alles überhaupt gerechtfertigt, was sie da tat, oder war sie hysterisch? Immerhin verdächtigte sie die Carabinieri, die staatliche Polizei, dem Mädchen etwas antun zu wollen. War sie irre oder beeinflussten die Erlebnisse von Genua ihr Handeln auch acht Jahre danach mehr, als sie sich das eingestand? Die Kirchenglocken schlugen, es war viertel vor sechs. Anna zuckte zusammen und blieb abrupt stehen. Sie legte den Kopf zurück und starrte hinauf zur Spitze des Kirchturms.
    »Anna, wir müssen weiter.«
    Aber Anna rührte sich nicht. Von unten, von der Hauptstraße her, kamen zwei ältere Damen mit Einkaufstaschen auf den Kirchplatz. Sie schienen ins Gespräch vertieft zu sein, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Anna bemerken würden. Carla wusste, dass sie um jeden Preis vermeiden mussten, Aufsehen zu erregen. Verdammtes Nachthemd!
    »Anna!« Carla packte das Mädchen an den Schultern. Sie sah Anna ins Gesicht – und erschrak. Der Spaziergang mit ihrem Vater fiel ihr ein, zwölf oder dreizehn Jahre alt musste sie damals gewesen sein, sie hatten Blumen gepflückt, und Carla hatte den merkwürdig geformten braunen Zweig im Gras vor sich entdeckt. Als sie ihn aufheben wollte, um ihn näher zu untersuchen, bemerkte sie, dass es gar kein Zweig war, sondern eine Gottesanbeterin, sie meinte sogar die Augen des Geschöpfs zu erkennen, bevor sie heftig zurückzuckte und vor Angst aufschrie. Sie hatte damals nicht sagen können, was das Entsetzen bei ihr ausgelöst hatte. Jetzt wusste sie es: Es war die Erkenntnis gewesen, dass das scheinbar Starre, Leblose belebt war. Es war ein Schock gewesen. Genau wie jetzt. Nur umgekehrt: Sie meinte, ein kleines Mädchen vor sich zu haben, aber es war nur eine Hülle. Unmöglich zu sagen, was diese Augen tatsächlich sahen, die noch immer auf die Spitze des Kirchturms gerichtet waren.
    Annas Lippen bewegten sich. Sie flüsterte etwas, es war kaum hörbar, Carla beugte sich zu Anna hinunter, brachte ihr Ohr so nah es ging an ihren Mund, in der Hoffnung, etwas verstehen zu können. Und schließlich verstand sie, was Anna sagte:
    »Die Glocken.« Sie wiederholte es immer wieder: »Die Glocken. Die Glocken.«
    »Was ist mit den Glocken, Anna?« Carla schaute hinauf zum Kirchturm, aber die Glocken waren bereits lange wieder verstummt. Sie hatten die Dreiviertelstunde geschlagen, das war alles. Die Damen kamen näher. Sie hatten sie bemerkt, schauten zu ihnen hinüber. Sie mussten sofort hier weg. Schnell.
    »Anna, wartest du in der Kirche auf mich?«
    »Die Glocken.«
    Die Damen standen schweigend vor ihnen und glotzten sie an. Carla lächelte ihnen zu.
    »Sie wollte unbedingt im Nachthemd ausgehen, ich hatte keine Chance.«
    Da entspannten sich die Gesichter der Damen sofort. Sie schienen das für eine plausible Erklärung zu halten, was wiederum nur bedeuten konnte, dass sie selber Kinder hatten. Sie nickten wohlwollend.
    »So sind Kinder halt«, sagte die eine. Die andere Dame sprach Anna direkt an: »Es ist

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