Terror: Thriller (German Edition)
Genua, wusste sie, dass sie schwach war und schrecklich verwundbar und dass das Leben ein Kampf war. Sie nahm das Palästinensertuch von ihrem Hals und reichte es Anna. »Leg dir das über die Beine, bis ich dir was zum Anziehen bringe. Bitte setz dich hin, man darf dich von unten nicht sehen.«
Ohne etwas zu sagen oder sie auch nur anzusehen, setzte sich Anna auf den Boden der Kanzel. Das Palästinensertuch legte sie achtlos neben sich. Sie lauschte noch immer den Glocken.
Carla warf ihr einen letzten Blick zu. Hoffentlich würde Anna hier sitzen bleiben und auf sie warten. Hoffentlich würde sie hier oben niemand entdecken. Sie breitete das Palästinensertuch über Anna. Da hörte sie eine Tür ins Schloss fallen, und gleich darauf hallten Schritte durch das Kirchenschiff.
Lenzari, Freitag, 4. Juni 2010, 18:04 Uhr
Sie hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen, seit sie den Raum mit den blutverschmierten Wänden verlassen hatten. Es war nicht nötig gewesen. Sie wollten das Gleiche. Die Treppe hinunter. Schnell. Er hatte sich die Handfläche aufgeschürft, als er sich auf dem rauen Putz abstützen wollte und dabei weitergegangen war. Nur raus. Es war ein ziehender Schmerz. Jetzt stand er vor Elisa Noès Haus und betrachtete seine Hand: Vier feine Risse durchzogen seinen Handteller, parallel, wie mit dem Lineal gezogen, die beiden äußeren waren rot, die inneren weiß. Sie mussten den Mörder finden.
Cesare war zunächst hinter die Kirche geeilt, um sich Antonios Leiche anzusehen. Fabrizio war beim Wagen geblieben und hatte sich an den Kotflügel gelehnt. Sonst wären ihm die Beine weggesackt. Mit bleichem Gesicht war Cesare wieder unter dem Torbogen hervorgekommen und hatte sich schweigend daran gemacht, das Auto zu untersuchen.
Der Nebel wurde wieder dichter. Seit er die Glocken ausgeschaltet hatte, herrschte eine beklemmende Stille hier oben am Berg. Es schien, als könne man jedes Geräusch kilometerweit hören, jedes Motorengeräusch, jede Motorsäge im Wald – aber es gab kein Geräusch, da war nichts. Fabrizio lauschte und starrte in den Nebel. Nichts.
»Es ist tot.« Cesare saß auf dem Fahrersitz des Alfas und hantierte an den Knöpfen des Funkgerätes herum.
»Sag ich doch.«
Fabrizio hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er warf einen Blick auf die Kirchturmuhr. Sie zeigte kurz nach halb sechs an. Das konnte nicht stimmen. Einen Moment lang war er verwirrt, dann fiel ihm ein, dass die Uhr stehen geblieben sein musste, als er die Kabel herausgerissen hatte.
»Wieviel Uhr ist es?«, fragt er Cesare.
»Kurz nach sechs.«
Fabrizio tastete mit der rechten Hand nach der Waffe im Halfter. Sie war da. Gut. Aber seine Hand zitterte.
»Wir brauchen Verstärkung.« Cesare stieg aus dem Wagen. Fabrizios Blick fiel für einen kurzen Moment auf den Ellenbogenschoner, der auf dem Rücksitz lag, dann schlug Cesare die Tür zu.
Ja, natürlich brauchten sie Verstärkung, dringend! Aber wie sollten sie die benachrichtigen?
Fabrizio sah auf das Display seines Handys.
»Immer noch kein Empfang.«
»Wir werden doch hier irgendwo ein funktionierendes Telefon auftreiben.« Cesare flüsterte. Noch immer kein Geräusch. Nichts.
»Mario hat ein Telefon.«
»Okay«, sagte Cesare. »Erst zu Mario und dann zum Marokkaner.«
»Glaubst du, dass er’s war?«
»Ich weiß es nicht.« Cesare zuckte ratlos die Schultern. Er holte seine Waffe aus dem Halfter und entsicherte sie.
»Wer immer es ist«, flüsterte er, »er ist noch irgendwo hier draußen.« Fabrizio entsicherte seine Waffe ebenfalls und folgte seinem Kollegen in den Nebel.
Berlin, Freitag, 19. Februar 2010, 10:40 Uhr
Kersting legte die Papiere auf den Tisch. »Sie erinnern sich an das Oktoberfest-Attentat von 1980?«, fragte er.
Da war er acht Jahre alt gewesen, schoss es Marc durch den Kopf, er wusste, dass es eines der schlimmsten Attentate in Deutschland gewesen war, ja, aber erinnern? Erinnern konnte er sich an nichts. Er hätte nicht sagen können, ob das Thema in seiner Familie damals eine Rolle gespielt hatte.
»Ich war damals einer der ersten Journalisten vor Ort«, sagte Kersting. »Ich dachte erst, da liegt überall Abfall rum, aber es waren Körperteile. Ich werde diese Bilder bis heute nicht los.« Kersting hielt inne, beugte sich vor und nahm einen Schluck Kaffee.
Marc warf Klaus einen schnellen Blick zu und sah sofort, dass sein Freund genauso verwirrt war wie er selbst. Sie waren auf der Suche nach dem Mann in Lenzari,
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