Terror: Thriller (German Edition)
doch viel zu kühl, du erkältest dich.«
Anna starrte noch immer den Kirchturm an. Sie schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Carla nahm sie kurzerhand auf den Arm und hoffte inständig, dass sie das geschehen lassen würde. Sie sagte laut auf Italienisch: »Komm, jetzt gehen wir nach Hause.« Sie lächelte den Damen zu: »Auf Wiedersehen, schönen Abend.«
Die Damen winkten ihr nach, als sie mit Anna auf dem Arm über den Kirchplatz eilte.
Als sie die schmale Gasse erreicht hatte, die parallel zur Hauptstraße in ost-westlicher Richtung durch den gesamten Ort führte, atmete Carla schwer. Anna wog deutlich mehr, als sie gedacht hatte, und sie schien jede Minute schwerer zu werden. Carla blieb stehen, lehnte sich einen Moment gegen die Häuserwand und atmete durch. Ein Tropfen klatschte auf ihre Stirn, sie sah nach oben. Über ihren Köpfen war an einer Leine Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Irgendwo lief ein Fernseher. Sie bemerkte, dass Anna fröstelte. Es war kalt und zugig in der Gasse. Carla drückte das Mädchen an sich, um es zu wärmen. Sie konnte Annas pochendes Herz spüren. Hoffentlich mache ich das Richtige, dachte sie. Sie schaute sich um, der Kirchplatz war verwaist, die Damen waren gegangen. Los jetzt! Mit schnellen Schritten ging sie zurück über das Kopfsteinpflaster, nach zwanzig Metern hatte sie den Seiteneingang der Kirche erreicht.
Als sie die Tür aufzog, schlug ihr die leicht abgestandene, weihrauchgeschwängerte Luft entgegen, die sie aus ihrer Kindheit so gut kannte. Sie war lange nicht mehr in einer Kirche gewesen, aber dieser Geruch hatte sofort etwas Tröstliches. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Stille.
»Willst du mal wieder selber gehen, Anna? Ich kann dich gleich nicht mehr tragen.«
Statt einer Antwort umklammerte Anna ihren Hals noch fester und vergrub ihr Gesicht in Carlas Schulter.
Ein metallisches Klirren ließ Carla zusammenzucken. Sie wandte sich nach links, von wo das Geräusch gekommen war. Eine junge Frau, nicht viel älter als Carla selbst, stand vor dem Gestell mit elektrischen Opferkerzen. Drei der vielleicht dreißig Kerzen brannten, die Frau musste eine Münze in den Opferstock geworfen haben, daher das Klirren. Die Frau sah Carla erstaunt an. Ihre Wimperntusche war verschmiert, sie hatte geweint. Carla lächelte ihr zu, die Frau bemühte sich ebenfalls zu lächeln, was ihr aber nicht recht gelang, dann löste sie sich von den Opferkerzen und ging mit schnellen Schritten hinter Carla vorbei zum Ausgang. Die Absätze ihrer Stiefel hallten durch das Kirchenschiff. Jetzt waren sie allein. Carla sah sich um. Wo könnte sie Anna für eine halbe Stunde verstecken? Ihr Blick fiel auf zwei Beichtstühle, die auf der rechten Seite des Kirchenschiffs standen. Die würden heute sicher nicht mehr benutzt werden. Wenn sie die Vorhänge zuzog? Würde Anna dann ruhig sitzen bleiben, mit hochgezogenen Beinen, damit sie niemand entdecken würde?
Da sah sie, keine zwei Meter entfernt, die Treppe, die hinaufführte zur Kanzel. Eine rote Kordel über der ersten Stufe signalisierte, dass das Betreten verboten war. Umso besser. Sie stieg, Anna immer noch auf dem Arm, über die Kordel. Fünfzehn Stufen, und sie waren oben angekommen. Es war ein gutes Versteck. Die Balustrade war hoch. Von unten konnte Anna nicht gesehen werden.
»Du musst jetzt genau machen, was ich dir sage, ja?« Sie musste ihre ganze Kraft aufwenden, um Annas Arme von ihrem Nacken zu lösen, so fest hatte sich das Kind an sie geklammert.
»Au«, sagte Anna leise, als sie wieder auf ihren eigenen Füßen stand. Sie verzog das Gesicht vor Schmerzen und fasste sich an den Unterschenkel.
»Deine Beine sind eingeschlafen, weil ich dich die ganze Zeit auf dem Arm hatte. Das ist gleich vorbei.« Carla bemerkte, dass sie flüsterte.
In dem Moment schlugen die Glocken wieder, länger als das letzte Mal. Es war 6 Uhr. Anna starrte in die Höhe und lauschte.
»Setz dich hier auf den Boden, Anna. Bleib hier, bis ich dich abhole. Ich komme auf jeden Fall zurück, du musst auf mich warten.«
Aber Anna starrte nur nach oben und lauschte dem Klang der Glocken. Carla folgte Annas Blick. Über ihren Köpfen breitete ein gütiger Herr Jesus seine Arme aus. Er wirkte stark und unverwundbar. Es gab eine Zeit, erinnerte sich Carla, da hatte sie sich auch stark und unverwundbar gefühlt. Sie konnte genau benennen, wann diese Zeit zu Ende gegangen war, bis auf den Tag genau: Seit dem 20. Juli 2001, jenem Freitag in
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