Terror: Thriller (German Edition)
faltigen Hals und ein zerfurchtes Gesicht. Er trug eine grüne Wollmütze, und Marc bemerkte, dass sein Kopf leicht zitterte. Beginnender Parkinson vielleicht? Marc musste an die riesige Echse denken, die er und Anna bei ihrem letzten Besuch im Zoo beobachtet hatten. Ein Urtier, das aussah, als habe es Zeiten erlebt, von denen die Menschheit noch nicht einmal etwas ahnte.
Anna war zu ihm getreten.
»Was wollen die?«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang ängstlich. Marc legte seine Hand auf ihre Schulter.
»Buon giorno«, sagte die Frau und lächelte, »willkommen in Lenzari.«
Die Frau, sie hieß Elisa Noè, erkundigte sich nach Annas Namen und Alter. Marc übersetzte für Anna. Frau Noè wohnte in dem großen Haus neben der Kirche und lud Anna ein, vorbeizukommen. Sie habe von ihrer Enkelin noch viele Spielsachen, die Anna gerne benutzen könne.
»Sie ist jetzt fünfzehn und kommt nicht mehr oft hier hoch.«
Marc hörte das Bedauern in ihrer Stimme. Er begann die unaufdringliche Freundlichkeit dieser Frau zu mögen.
»Es ist schön, dass mal wieder eine junge Familie in Lenzari ist. Das tut wirklich gut. Wir sind hier alle alt und sterben sicher auch bald.« Frau Noè lachte. Der Mann neben ihr nickte. Er hatte die ganze Zeit kaum etwas gesagt. Marc hatte mitbekommen, dass er Antonio hieß – seinen Nachnamen hatte er nicht verstanden – und ihr direkter Nachbar war. Ihm gehörten die Kaninchen.
»Schau mal!«, rief Anna plötzlich und beugte sich über etwas, das vor ihr auf dem Boden lag. Marc schaute ihr über die Schulter: Es war eine junge Ratte. Sie hatte noch kein Fell und musste gerade aus ihrem Nest gefallen sein. Sie fiepte jämmerlich und wand sich auf dem Steinfußboden. Ihre Füßchen ruderten hilflos in der Luft herum.
»Scusa«, sagte Antonio, schob Anna ein wenig zur Seite und trat mit dem Absatz seines lehmverschmierten Bergschuhs kräftig auf die Ratte. Ein weiteres jämmerliches Fiepen, ein knirschendes Geräusch. Marc sah nicht hin, als Antonio den Fleischklumpen mit der Hand vom Boden aufhob und durch das Loch im Dach hinter die Mauer warf.
»Es gibt zu viele Ratten hier«, sagte Antonio und lächelte freundlich. Anna hatte sich an Marcs Beine geklammert. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihren Nacken. Sie hatte eine Gänsehaut.
Marc verabschiedete sich schnell, versprach Frau Noè, bald auf einen Kaffee vorbeizukommen, und schob Anna, die sich immer noch an ihn klammerte, behutsam aus dem verfallenen Gebäude. Als sie allein waren, begann Anna zu schluchzen. Sie hatte Tränen in den Augen und war völlig verstört.
»Warum hat er das gemacht? Das war doch ein Baby!«
»Für ihn sind das nur lästige Tiere, die Krankheiten übertragen, weißt du …«
»Ist er böse?«
»Nein, er ist sogar sehr nett …«
Anna schluchzte. Marc fiel nichts ein, was er ihr zum Trost sagen konnte. Er kniete sich vor sie, umarmte sie und streichelte ihren Rücken. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und weinte bitterlich.
Vier Stunden später saßen sie im »Arlecchino« an der Strandpromenade von Alassio und hielten ihre fahlen Gesichter in die Wintersonne, die hier so viel Kraft hatte, dass die Restaurantbesitzer ihre Tische nach draußen gestellt hatten.
»Boah! Und jetzt noch ein kleines Tiramisu?«
»Dann platze ich.«
Conny hatte ein Fritto misto und Marc zusammen mit Anna eine Platte Penne allo scoglio verdrückt. Anna kniete neben ihnen im Sand und buddelte. Dahinter glitzerte das Meer so hell, dass Marc die Augen zusammenkneifen musste. Er ließ seinen Blick über die Bucht und die steil ansteigende Küste schweifen. Der Himmel über Alassio war tiefblau.
»Wie bescheuert, im Winter in Berlin zu sitzen.«
»Hmh«, brummte Conny und legte ihre Hand auf Marcs Knie. In diesem Moment war Marc ihren Berliner Freunden Dirk und Maike unendlich dankbar dafür, dass sie ihnen ihr Haus in Lenzari zur Verfügung gestellt hatten. Noch vor ein paar Wochen waren er und Conny am Ende ihrer Kräfte gewesen, nach einem Höllenwinter in Berlin, der noch mindestens zwei Monate andauern würde. Seit November war Anna immer wieder krank gewesen und einfach nicht mehr auf die Beine gekommen. Irgendwann nach Weihnachten war ihnen klar geworden, dass sie eine Auszeit brauchten. Und jetzt, da ihm die Sonne so wohltuend ins Gesicht schien, wusste Marc, dass es richtig gewesen war, das Angebot der Freunde anzunehmen.
Der Kellner räumte ab und fragte, ob sie Dessert oder Kaffee oder beides wollten.
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