Terror: Thriller (German Edition)
Conny, die eben noch gemeint hatte, gleich platzen zu müssen, bestellte ein kleines Tiramisu zu ihrem Kaffee.
»Natürlich für Anna«, sagte sie und grinste. Marc fand, dass sie toll aussah, vor dem glitzernden Meer.
»Anna! Tiramisu kommt gleich!«
Aber Anna reagierte nicht. Eine Folge der vielen Mittelohrentzündungen. Was ziemlich anstrengend war, weil sie immer erst schreien mussten, bis Anna sie verstand.
»Aber ein bisschen besser hört sie, oder nicht?«
»Ich habe nicht den Eindruck, ehrlich gesagt.« Sie betrachteten Anna, die eben eine große Feder im Sand entdeckt hatte. Der Vogel, dem die Feder gehört hatte, musste schwer krank sein.
» BÄH! WIRF DAS DING WEG, ANNA! «
Anna drehte sich zu ihnen um. »Was?«
» KOMM MAL HÄNDE WASCHEN, GIBT GLEICH TIRAMISU! «
»Juhuuu!« Anna kam angerannt, legte die Feder des kranken Vogels neben Marc auf den Tisch und ging mit Conny ins Restaurant hinein, Hände waschen. Marc sah ihnen nach. Anna hüpfte an Connys Hand. Die Trauer über das Rattenbaby war verflogen.
Er betrachtete die Feder des kranken Vogels, die neben seiner Kaffeetasse lag. Der Flaum unten am Kiel zitterte, obwohl es völlig windstill war. Große Kerben waren in die Feder hineingeschlagen, die Spitze war abgebrochen, sodass sie ihre Form verloren hatte. Ein schmutzig grauer, verklebter Rumpf war übrig geblieben, ekelhaft. Er gab dem Drang nach, sie anzufassen.
Sie kamen spät nach Hause, der Einkauf bei Coop in Albenga hatte lange gedauert. Es war bereits dunkel, und sie trauten sich nicht mehr, Massimo und Sandra um diese Zeit noch zu besuchen. Sie würden das auf morgen verschieben, obwohl Dirk und Maike sie gebeten hatten, die beiden bald nach ihrer Ankunft aufzusuchen. Massimo und Sandra kümmerten sich um das Haus, wenn Dirk und Maike nicht in Lenzari waren. Sie fühlten sich verantwortlich, deshalb war es wichtig, dass sie so bald wie möglich dort Guten Tag sagten. Aber heute nicht mehr. Die frische Luft hatte sie müde gemacht. Kurz nach 22 Uhr schliefen sie alle.
Es war 1:40 Uhr, als das Babyfon knarzte. Ein kurzes Rauschen, Marc fuhr hoch, versuchte sich zu orientieren. Etwas glühte in der Dunkelheit, ein oranges Licht – der Schalter des Radiators. Italien, Lenzari, jetzt wusste er, wo er war. Es war warm im Zimmer. Viel zu warm. Marc hatte einen trockenen Mund. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er wollte gerade den Radiator ausschalten, als die Schreie einsetzten. Sehr laut. Unter die Schreie waren Worte gemischt, die aber kaum zu verstehen waren. Dumpfe Schläge. Ein Winseln, das kaum mehr menschlich klang. »No!« Dann noch mal, deutlicher, »No!«. Die Stimme überschlug sich. Das Babyfon, aus dem die Schreie kamen, knarzte wieder und setzte mit einem schrillen Pfeifen aus.
Zwischen Vessalico und Lenzari,
Freitag, 4. Juni 2010, 16 Uhr
Die Wolken, die Olivenbäume, die verbeulte Leitplanke – sie alle hatten ihre Konturen verloren, flossen mit dem schmierigen Grau der Straße zusammen und an der Windschutzscheibe des Alfas herunter. Fabrizio drehte den Zündschlüssel im Schloss. Die Scheibenwischer brachen aus ihrem Graben hervor und gaben der Welt draußen mit einer lässigen Bewegung ihre Umrisse zurück. Er atmete tief durch. Dann löste er die Handbremse und ließ den Wagen einen halben Meter rückwärts rollen, sodass er Cesare und das Mädchen sehen konnte. Die Scheibenwischer zerschnitten die Szene mit einem regelmäßigen Quietschen. Cesare kniete vor Anna auf der Straße. Er hatte seine Uniformjacke zusammengerollt und sie Anna wie ein Kissen unter den Kopf geschoben. Jetzt spannte er einen Regenschirm auf, den er aus dem Kofferraum des Alfas geholt hatte. »Pizzeria Dal Maniscalco« war auf den Schirm aufgedruckt und ein Hufeisen, das Logo der Pizzeria. Cesare legte den aufgespannten Schirm auf die Straße und richtete ihn so aus, dass er Annas Gesicht vor dem Regen schützte. Sie hatte die Augen geschlossen. Wieder – das zweite Mal innerhalb von vier Monaten – kniete Cesare vor einem kleinen Mädchen. Aber dieses Mädchen hieß Anna, nicht Valeria. Und dieses Mädchen lebte. Es atmete. Es hatte die Augen geschlossen, aber es atmete; Fabrizio konnte sehen, wie sich ihr Brustkorb auf- und abbewegte. Sie hatten versucht, Anna hochzuheben, um sie ins Auto zu setzen, aber sie hatte sich gewehrt. Sie schien Angst vor ihnen zu haben und wollte sich nicht berühren lassen. Deshalb lag sie noch immer da vorne im Regen. Er griff zum
Weitere Kostenlose Bücher