Terror
-schnüffeln und -stechen mussten, war es so weit.
Wenn er spätnachts in der Lazarettkoje lag, wenn im abgedunkelten Mannschaftslogis hinter der Trennwand die Seeleute schimpften und flüsterten, furzten und lachten und wenn Mr. Diggle mit geknurrten Befehlen seine Gehilfen antrieb, um unermüdlich seinen Zwieback zuzubereiten, lauschte Thomas Blanky auf das Mahlen und Ächzen des Seeeises, das danach trachtete, die HMS Terror zu zerquetschen, und wurde davon genauso sicher in den Schlaf gewiegt wie einst von einem Schlummerlied seiner längst verstorbenen Mutter.
22
Irving
70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
13. DEZEMBER 1847
D er Dritte Leutnant John Irving musste unbedingt herausfinden, wie Lady Silence das Schiff betrat und verließ, ohne gesehen zu werden. Heute Abend war es auf den Tag genau einen Monat her, dass er die Eskimofrau in ihrem Nest entdeckt hatte. Und heute wollte er das Rätsel lösen, auch wenn es ihn mehrere Zehen und Finger kostete.
Nachdem er sie aufgespürt hatte, berichtete Irving seinem Kapitän umgehend, dass Lady Silence ihr Lager in das Kabelgatt auf dem Lastdeck verlegt hatte. Er erwähnte allerdings nichts von dem frischen Fleisch – vor allem weil er sich gar nicht sicher war, was er wirklich in der bangen Sekunde gesehen hatte, als er in den kleinen, von einer Flamme erleuchteten Verschlag geblickt hatte. Auch die Anzeichen sodomitischer Handlungen zwischen dem Kalfaterersmaat Hickey und dem Matrosen Manson hatte er nicht zur Sprache gebracht.
Irving wusste, dass er gegen seine Pflicht als Offizier der Royal Navy verstieß, wenn er seinen Kapitän nicht von dieser schockierenden und schwerwiegenden Tatsache in Kenntnis setzte, aber …
Aber was? Als einzige Rechtfertigung für diese ernste Pflichtverletzung
fiel ihm ein, dass es an Bord der Terror bereits genügend Ratten gab.
Lady Silence’ magisches Auftauchen und Verschwinden, das von der abergläubischen Mannschaft als letzter Beweis für ihre hexerischen Fähigkeiten gewertet und von Kapitän Crozier und den anderen Offizieren als Ammenmärchen abgetan wurde, schien dem jungen Irving viel wichtiger als die Frage, ob sich ein Kalfaterersmaat und ein Schiffstrottel unten in der stinkenden Dunkelheit des Lastdecks miteinander vergnügten.
Und es war wirklich eine stinkende Dunkelheit, dachte Irving in der dritten Stunde seiner Wache, die er zusammengekauert auf einer Kiste hinter einer Säule in der Nähe des Kabelgatts verbrachte. Der Gestank in dem matschigen, finsteren Kielraum wurde von Tag zu Tag schlimmer.
Wenigstens standen auf der niedrigen Plattform vor dem Kabelgatt keine Gaben mit Essen, Rum und heidnischen Fetischen mehr. Kurz nach Mr. Blankys erstaunlicher Flucht vor dem Wesen aus dem Eis hatte ein Offizier Crozier auf diese Unsitte aufmerksam gemacht. Der Kapitän hatte einen fürchterlichen Wutanfall bekommen und damit gedroht, dem nächsten Seemann, der so dumm, so abergläubisch, so hirnverbrannt und so unchristlich war, dass er einem eingeborenen Heidenkind Essensreste oder Becher voller bestem, mit Wasser vermischtem westindischem Rum als Opfer darbrachte, die Rumration zu streichen – und zwar für immer. Allerdings wussten einige Matrosen, die einen Blick auf die nackte Lady Silence erhascht oder Gespräche der Ärzte über sie belauscht hatten, zu berichten, dass sie durchaus kein Kind mehr war.
Des Weiteren hatte Kapitän Crozier unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er das Tragen von Polarbärfetischen nicht duldete. Erst beim gestrigen Gottesdienst – der wieder aus einer Verlesung der Schiffsordnung bestand, obwohl viele Matrosen schon gespannt auf weitere Worte aus dem Buch Leviathan
warteten – hatte er angekündigt, dass er jedem Seemann, an dem er etwas Fetischartiges bemerkte, wie etwa einen Bärenzahn, eine Bärenklaue, einen Bärenschwanz oder eine neue Tätowierung, eine zusätzliche Mittelwache oder zweimaligen Latrinenreinigungsdienst aufbrummen würde. Auf einen Schlag erlahmte die Begeisterung für heidnische Fetische an Bord der Terror. Von Freunden auf der Erebus hatte Irving jedoch gehört, dass sie dort noch ungebrochen blühte.
Mehrmals schon hatte Irving versucht, der Eskimofrau nachts auf ihren verstohlenen Wegen durch das Schiff zu folgen, aber bisher hatte er sie immer aus den Augen verloren, weil er zu großen Abstand hielt, um nicht ihren Argwohn zu wecken. Heute wusste er, dass Lady Silence in ihrem Verschlag war. Er
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