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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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war ihr vor drei Stunden über den Hauptniedergang nach unten nachgeschlichen, nachdem sie im Anschluss an das Abendessen der Männer in aller Stille von Mr. Diggle ihre Portion Stockfisch, einen Zwieback und ein Glas Wasser erhalten hatte. Irving postierte einen Mann an der Leiter unmittelbar vor dem großen Herd und einen weiteren Matrosen am Hauptniedergang. Dann teilte er weitere Männer ein, die diese Wachen nach vier Stunden ablösen sollten. Wenn die Eskimofrau heute Nacht eine der beiden Treppen benutzte, würde Irving erfahren, wohin sie ging. Und wann. Inzwischen war es bereits vier Glasen der Abendwache.
    Doch die niedrigen, breiten Türen zum Kabelgatt waren nun schon seit drei Stunden fest verschlossen. Das einzige Licht im vorderen Teil der Last war ein schwacher Schimmer um die Kanten dieser Türen. Die Frau hatte also noch immer eine Lichtquelle in ihrem Verschlag – eine Kerze oder irgendeine andere offene Flamme. Allein dieser Umstand wäre für Kapitän Crozier Grund genug gewesen, sie im Handumdrehen aus dem Kabelgatt herauszuholen und wieder zurück in ihre kleine Höhle vor dem Lazarett im Unterdeck zu verfrachten – oder sie gleich
hinaus aufs Eis zu jagen. Der Kapitän fürchtete Feuer an Bord genauso wie jeder andere Seeveteran, und seine Gefühle für Lady Silence waren ohnehin nicht unbedingt die freundlichsten.
    Plötzlich erlosch das schwache Lichtviereck um die klobigen Türen des Verschlags.
    Sie hat sich schlafen gelegt , dachte Irving. Er stellte sich vor, wie sie sich nackt in ihr Pelznest wickelte. Und er stellte sich vor, wie einer der anderen Offiziere am Morgen nach ihm suchte und schließlich seinen leblosen Körper hier auf der Kiste über dem matschdurchtränkten Schiffsboden fand – offenbar ein ungehobelter Flegel, der beim Belauern der einzigen Frau an Bord erfroren war. Nicht unbedingt ein heroischer Bericht, den Leutnant John Irvings Eltern da zu lesen bekommen würden.
    In diesem Augenblick wehte ein eisiger Hauch durch das ohnehin schon kalte Lastdeck. Es war, als hätte ihn in der Dunkelheit ein übelwollender Geist gestreift. Irving spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten, doch dann fiel ihm ein: Es ist nur ein Luftzug. Wie beim Öffnen einer Tür oder eines Fensters.
    Jetzt wusste er, wie Lady Silence das Schiff heimlich betrat und verließ.
    Irving zündete seine Laterne an und sprang in das Matschwasser; er wollte die Türen des Kabelgatts aufziehen, doch sie waren von innen verschlossen. Irving wusste, dass es auf der Innenseite der Kabelgatttüren keinen Riegel gab. Nicht einmal außen befand sich einer, weil niemand auf die Idee gekommen wäre, Kabeltaue zu stehlen. Die Eingeborene musste also einen Weg gefunden haben, um die Tür von innen zu sichern.
    Irving hatte sich auf diese Möglichkeit vorbereitet. In der rechten Hand hielt er eine dreißig Zoll lange Brechstange. Obwohl ihm klar war, dass er sich für irgendwelche Schäden vor Leutnant Little und vielleicht sogar vor Kapitän Crozier verantworten musste, steckte er das schmale Ende des Werkzeugs in den Spalt zwischen den Türen und drückte mit aller Kraft. Es
knarrte und ächzte, doch die Türen öffneten sich nur ein, zwei Zoll weit. Ohne die Brechstange loszulassen, tastete Irving mühsam unter seine Wetterplünnen und zog sein Bootsmesser aus dem Gürtel.
    Lady Silence hatte Nägel in die Rückseite der Kabelgatttüren geschlagen und eine dehnbare Schnur – Gedärme oder Sehnen eines Tiers? – hin und her geschlungen, bis der Durchgang wie mit einem weißen Spinnennetz gesichert war. Irving hatte keine Möglichkeit, den Verschlag zu betreten, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen – dafür hatte schon die Brechstange gesorgt. Daher begann er mit dem Messer durch das Gespinst aus Sehnen zu schneiden. Es war nicht einfach. Die Fasern waren für die scharfe Klinge schwerer zu durchtrennen als Rohleder oder Hanf.
    Als die Schnüre endlich nach unten sanken, hielt Irving die zischende Laterne in den niedrigen Raum.
    Das kleine Lager war genau so, wie er es von seinem kurzen Blick vor vier Wochen in Erinnerung hatte: die aufgewickelten Trossen waren zurückgeschoben und fast nach oben gezogen worden, um innerhalb des Verschlags eine Art Höhle zu schaffen. Offenbar nahm Silence hier öfter Mahlzeiten zu sich. Irving entdeckte einen Zinnteller von der Terror , auf dem noch einige Krümel Stockfisch lagen, einen Grogbecher und eine Art Vorratsbeutel, den sie sich anscheinend aus

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