Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons

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alten Segeltuchfetzen zusammengenäht hatte. Außerdem stand auf dem Boden eine kleine Schiffslampe. Solche Lampen, die nur mit wenig Öl gefüllt waren, benutzten die Männer, wenn sie nachts auf den Donnerbalken mussten. Das Glas fühlte sich noch ganz warm an, als Irving Fäustling und Handschuh abstreifte.
    Aber keine Spur von Lady Silence.
    Irving hätte die schweren Kabel hin und her zerren können, doch er wusste aus eigener Anschauung, dass der Rest des Kabelgatts bis oben hin vollgestopft war mit Ankertrossen. Vor zweieinhalb
Jahren waren sie in See gestochen, und noch immer klebte der Gestank der Themse an ihnen.
    Lady Silence war nicht da. Es gab keinen Weg hinauf durchs Deck und die Balken und auch nicht hinaus durch die Schiffswand. Hatten die abergläubischen Seeleute also doch recht? War sie eine Eskimohexe? Eine Schamanin? Eine heidnische Zauberin?
    Der Dritte Leutnant John Irving wollte es nicht glauben. Ihm fiel auf, dass der starke Luftzug verschwunden war, aber die Flamme in seiner Laterne immer noch in einem schwächeren Hauch blakte.
    Irving ließ die Lampe in Armeslänge kreisen – mehr Platz gab es in dem beengten Kabelgatt ohnehin nicht –, und hielt dort inne, wo die Flamme am stärksten flackerte: ein kleines Stück steuerbord der Bugspitze.
    Er stellte die Lampe ab und fing an, die Kabel beiseitezuschieben. Er bemerkte sofort, wie geschickt sie die starken Ankerleinen hier angeordnet hatte. Was aussah wie eine riesige, auf eine andere getürmte Tauwerksrolle, war nur das zusammengeschlungene Ende einer Rolle, das sich leicht nach innen in die Höhle ziehen ließ. Hinter der falschen Rolle kamen die geschwungenen Planken des Schiffsrumpfs zum Vorschein.
    Auch diese Stelle hatte sie sorgfältig ausgewählt. Über und unter dem Kabelgatt verlief ein kompliziertes Netz aus Holz- und Eisenbalken, das während der Umrüstung für die Polarfahrt eingebaut worden war. Die nach neuesten Erkenntnissen gestaltete Panzerung des Schiffs für das arktische Eis bestand hier aus senkrechten Eisenträgern, eichenen Querbalken, dreifach verstärkten Stützstreben, dreieckigen Eisenauflagen und riesigen Diagonalbalken aus Eiche, die zum Teil so dick waren wie richtige Schiffsplanken. Leutnant Irving erinnerte sich noch, dass ein Londoner Berichterstatter die tonnenschwere innere Armierung aus Eisen und Eiche und die zusätzlichen Schichten aus afrikanischer
Eiche und kanadischer Ulme auf dem Schiffsrumpf als einen »ungefähr acht Fuß starken Panzer« bezeichnet hatte.
    Für den Bug und die Bordwände war das eine fast zutreffende Beschreibung, doch im und über dem Kabelgatt, wo die letzten fünf Fuß der Schiffsplanken am Bug zusammenliefen, gab es nur die sechs Zoll starke englische Eiche ohne die zusätzlichen zehn Zoll Hartholz, die sich über den restlichen Rumpf hinzogen. Man hatte es für ratsam gehalten, die wenigen Fuß unmittelbar backbord und steuerbord des gepanzerten Bugs nicht so stark zu versteifen, damit diese Stellen unter der schrecklichen Belastung des Eisbrechens dehnbar blieben.
    Und das hatte sich bewährt. Die fünf Plankengürtel an den Bordwänden zusammen mit dem von innen durch Eisen und Eiche verstärkten Bug hatten ein Wunder moderner Eisbrechtechnik entstehen lassen, mit dem es keine andere Marine aufnehmen konnte. Die Terror und die Erebus waren in Gegenden vorgedrungen, in denen kein Schiff der Erde überlebt hätte.
    Ja, der Bug war ein wahres Wunder. Aber er war nicht mehr sicher.
    Irving hielt die Lampe dicht ans Holz und tastete sich mit bloßen Fingern und der Messerklinge voran. Er brauchte mehrere Minuten, um das kurze Stück der eineinhalb Fuß breiten Planke zu finden, das herausgelöst worden war. Ja, da war es. Das achterliche Ende des gekrümmten Bretts war mit zwei langen Nägeln befestigt, die als eine Art Angeln dienten. Das vordere Ende, das nur wenige Fuß von der riesigen, um die ganze Schiffslänge laufenden Kielplanke entfernt war, war lediglich hineingedrückt worden.
    Mit der Brechstange löste Irving die Rumpfplanke und fragte sich, wie die junge Frau das lediglich mit ihren Fingern geschafft hatte. Plötzlich schlug ihm kalte Luft ins Gesicht, und er
blickte durch eine eineinhalb Fuß hohe und einen Fuß breite Bresche hinaus in die Finsternis.
    Das war unmöglich. Der junge Leutnant wusste, dass die Bordwände der Terror vom Bug aus zwanzig Fuß achterlich mit zolldickem, besonders gewalztem und gehärtetem Eisenblech gepanzert worden waren.