Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
an meiner Stelle – in diesem Jahre 1848 unseres Herrn thun könnte.
    Gott stehe uns allen bei.

27
Crozier
    70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
11. JANUAR 1848
     
     
     
    E s will nicht aufhören. Der Schmerz will nicht aufhören. Die Übelkeit will nicht aufhören. Der Schüttelfrost will nicht aufhören. Der Schrecken will nicht aufhören.
    Crozier windet sich zwischen den gefrorenen Decken seiner Koje und möchte sterben.
    Während der wenigen klaren Augenblicke, seit er sich zu seinen Dämonen zurückgezogen hat, hat er nichts anderes getan, als seine einzige vernünftige Handlung der letzten Woche zu bereuen.
    Vor einigen Tagen hat er Leutnant Little ohne weitere Erklärung seinen Revolver ausgehändigt und ihn aufgefordert, ihm die Waffe erst zurückzugeben, wenn er, der Kapitän, wieder in voller Uniform an Deck erscheint und ihn darum ersucht. Jetzt würde Crozier alles darum geben, diesen geladenen Revolver in Händen zu halten. Die Schmerzen sind einfach unerträglich. Das Denken ist unerträglich.
    Seine Großmutter Memo Moira fällt ihm ein. Die Mutter seines verstorbenen Vaters, dem er keine Träne nachweint, war diejenige Crozier, über die in der Familie nicht gesprochen wurde. Bereits jenseits der achtzig, als Crozier noch ein kleiner Junge
war, wohnte sie zwei Dörfer weiter – damals eine riesige, nicht zu überbrückende Entfernung für ihn. Die Verwandten seiner Mutter taten so, als würde Memo nicht existieren, und luden sie auch nie zu Familienfeiern ein.
    Denn sie war Papistin. Und eine Hexe.
    Als er zehn war, ließ sich Crozier öfter von einem Pferdewagen mitnehmen, um sie in ihrem Dorf zu besuchen. Schon im ersten Jahr begleitete er sie dort in die seltsame Papistenkirche. Seine Mutter, seine Tante und die andere Großmutter wären auf der Stelle tot umgefallen, wenn sie es erfahren hätten. Sie hätten sich von ihm losgesagt und ihn verstoßen. Die anständigen angloirischen Presbyterianer seiner Familie hätten ihn genauso verachtet, wie ihn später die Admiralität und der Arktische Rat dafür verachteten, dass er Ire war. Ein Ire niedriger Abstammung.
    Memo Moira jedoch hielt ihn für etwas Besonderes. Sie war sich sicher, dass er das zweite Gesicht hatte.
    Diese Vorstellung machte dem jungen Francis Rawdon Moira Crozier keine Angst. Er liebte das Dunkle und Geheimnisvolle des katholischen Gottesdienstes: den großen Priester, der dahinstolzierte wie eine Aaskrähe und die Zauberformeln einer toten Sprache von sich gab, die unmittelbare Magie der Eucharistie, die einen Toten wiederauferstehen ließ, damit Ihn die Gläubigen verzehren und ein Teil von Ihm werden konnten, den Weihrauchduft und die mystischen Gesänge. Einmal, als er zwölf war – kurz bevor er von zu Hause ausriss, um zur See zu fahren –, sagte er zu Memo, dass er Priester werden wollte. Die alte Frau schlug ihr wildes, heiseres Lachen an und meinte, er solle sich diesen Unsinn aus dem Kopf schlagen.
    »Ein Priester ist genauso gewöhnlich und nutzlos wie ein irischer Säufer. Du solltest lieber deine Gabe nutzen, junger Francis. Nutze das zweite Gesicht, das seit vielen, vielen Generationen in meiner Familie ist. Damit kannst du zu Orten reisen
und Dinge sehen, die noch kein Mensch auf dieser traurigen Welt erblickt hat.«
    Der junge Francis glaubte nicht an das zweite Gesicht. Und ungefähr zur gleichen Zeit stellte er fest, dass er auch nicht an Gott glaubte. Er ging zur See. Er glaubte an alles, was er dort sah und lernte, auch wenn einiges davon wirklich seltsam war.
    Jetzt versinkt Crozier in einem Wirbel aus Qualen, der mit einer Woge der Übelkeit heranbrandet. Er wacht nur kurz auf, um sich in den Eimer zu übergeben, den ihm sein Steward Jopson hingestellt hat und den er alle Stunden leert. Croziers Schmerz reicht bis in das Loch in der Mitte seiner selbst, wo einmal seine Seele gewohnt hat, bevor sie im Lauf der Jahrzehnte von einem Meer aus Whiskey davongespült wurde. Während dieser endlosen Tage und Nächte in kaltem Schweiß auf gefrorenem Bettzeug weiß er, dass er seinen Rang, seine Auszeichnungen, seine Mutter, seine Schwestern, den Namen seines Vaters und sogar die Erinnerung an Memo Moira dafür hingeben würde, nur noch ein einziges Glas Whiskey trinken zu dürfen.
    Das Schiff ächzt unter dem Druck des unermüdlichen Eises. Und Crozier ächzt unter dem Druck der Dämonen, die ihn mit Schüttelfrost, Fieber, Schmerzen, Übelkeit und Reue plagen. Aus einem alten Gürtel

Weitere Kostenlose Bücher