Terror
hat er ein sechs Zoll langes Stück herausgeschnitten, auf das er in der Dunkelheit beißt, um nicht zu laut zu stöhnen. Aber er stöhnt trotzdem.
Er kann sich alles vorstellen. Er sieht es wie mit eigenen Augen.
Lady Jane Franklin ist in ihrem Element. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren ohne Nachricht von ihrem Mann, ist sie voll in ihrem Element. Lady Franklin, die Unbezähmbare. Lady Franklin, die keine Witwe sein will. Lady Franklin, die Schutzheilige der Arktis, jener Arktis, die ihrem Mann zum Verhängnis geworden ist. Lady Franklin, die sich nie mit dem Tod ihres Gatten abfinden wird.
Crozier nimmt sie so deutlich wahr, als hätte er wirklich das zweite Gesicht. Nie hat Lady Franklin schöner ausgesehen als jetzt in ihrer Entschlossenheit, in ihrer Weigerung zu trauern, in ihrer Gewissheit, dass Sir John noch am Leben ist und dass seine Expedition gefunden und gerettet werden muss.
Über zweieinhalb Jahre sind vergangen. Die Royal Navy weiß, dass die Vorräte der Erebus und Terror bei normalen Rationen für drei Jahre reichen. Aber Sir John wollte schon im Sommer 1846 und auf keinen Fall später als im August 1847 jenseits von Alaska ankommen.
Spätestens jetzt wird Lady Jane die Navy und das Parlament aus ihrer Lethargie gerissen haben. Crozier sieht vor sich, wie sie jeden Tag Briefe schreibt: an die Admiralität, an den Arktischen Rat, an ihre Freunde und ehemaligen Verehrer im Parlament, an die Königin und natürlich an ihren toten Gemahl. In ihrer gestochen scharfen Schrift teilt sie dem toten Sir John mit, dass sie ihn nicht aufgegeben hat und nicht daran zweifelt, ihn schon bald wieder in die Arme schließen zu können. Crozier sieht, wie sie es der Welt kundtut. Ganze Folianten von Briefen an ihren Gatten wird sie den Rettungsschiffen mitgeben, die schon bald segeln werden – Marineschiffe natürlich, aber sehr wahrscheinlich auch Privatschiffe, die Lady Jane mit ihrem schwindenden Vermögen oder mit Spenden besorgter, reicher Freunde geheuert hat.
Aus seinen Visionen auftauchend, versucht Crozier sich aufzusetzen und zu lächeln. Der Schüttelfrost beutelt ihn wie ein Bramsegel im Sturm. Er erbricht sich in den fast vollen Kübel. Dann sinkt er auf sein schweißgetränktes, nach Galle stinkendes Kissen zurück, um erneut in das Meer seiner Phantasien einzutauchen.
Wen werden sie schicken, um die Erebus und Terror zu bergen? Wen haben sie schon geschickt?
Crozier weiß, dass Sir John Ross geradezu darauf brennt, eine Rettungsexpedition ins Eis zu führen, aber er sieht auch, dass
Lady Jane den Alten übergehen wird, weil sie ihn für ordinär hält. Sie wird sich für seinen Neffen James Clark Ross entscheiden, der mit Crozier das antarktische Meer erforscht hat.
Sicher, der junge Ross hat seiner jungen Frau versprochen, keine Forschungsreisen mehr zu unternehmen, doch Lady Janes Bitte kann er nicht abschlagen. Ross wird mit zwei Schiffen fahren. Crozier sieht, dass sie im kommenden Sommer in See stechen werden. Er sieht, wie sie nördlich an der Baffin-Insel vorbei und nach Westen durch den Lancaster-Sund segeln, so wie Sir John vor drei Jahren mit der Terror und der Erebus. Fast kann er den Namen am Bug von Ross’ Schiffen erkennen. Doch jenseits des Prince Regent Inlet oder spätestens der Devon-Insel wird Sir James auf dasselbe unerbittliche Packeis stoßen, das Croziers Schiffe in seinem eisernen Griff hält. Im nächsten Sommer werden die Sunde und Straßen, durch die sie von den Eislotsen Reid und Blanky gelenkt wurden, nicht auftauen. Sir James Clark Ross wird nicht näher als dreihundert Meilen an die Erebus und Terror herankommen.
Crozier sieht, wie sie im bitterkalten Frühherbst 1848 die Rückreise nach England antreten.
Weinend und stöhnend verbeißt er sich in seinen Lederriemen. Seine Knochen sind zu Eis erstarrt. Sein Körper steht in Flammen. Überall unter seiner Haut krabbeln Ameisen.
Mit dem zweiten Gesicht erkennt er, dass in diesem Jahr Unseres Herrn 1848 weitere Schiffe ausgesandt werden, einige von ihnen gleichzeitig mit oder sogar noch früher als Ross’ Such-expedition. Die Royal Navy ist ein maritimes Faultier, das sich nur langsam aus seiner Trägheit löst, doch wenn sie einmal in Bewegung gekommen ist, neigt sie dazu, zu viel des Guten zu tun. Übertriebener Eifer nach unendlichem Zaudern ist die übliche Vorgehensweise der Royal Navy, die Francis Crozier nun schon seit vier Jahrzehnten kennt.
In seinem gequältem Kopf erscheinen Bilder mindestens
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