Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
ich zu wiederholten Malen Haut entfernen und vernähen mußte. Da er sowohl am Rücken als auch am Bauche Wunden hat, versucht Fowler, auf
der Seite zu schlafen. Dennoch hat er sich weder bei mir noch bei Lloyd beklagt.
    »Männer, die viel lesen, haben ein empfindlicheres Gemüth«, fügte Fowler hinzu. »Wenn der arme Kerl nicht die alberne Geschichte dieses Amerikaners gelesen hätte, hätte er wohl kaum die verschiedenfarbigen Gemächer für den Maskenball vorgeschlagen – eine Idee, von der wir alle begeistert waren –, und dies alles wäre nie geschehen.«
    Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte.
    »Ich meine nur, daß das Lesen wie ein Fluch ist«, schloß Fowler. »Vielleicht ist es besser, wenn ein Mensch in seinem eigenen Kopfe bleibt.«
    Darauf hätte ich am liebsten »Amen!« gerufen, wenngleich ich nicht zu sagen vermag, weshalb.
    Während ich dies niederschreibe, befinde ich mich in Dr. Peddies ehemaliger Kajüte auf der HMS Terror , weil mich Capitain Crozier angewiesen hat, jeden Dienstag bis Donnerstag auf seinem Schiffe und die restlichen Wochentage an Bord der Erebus zu verbringen. Mein Gehülfe Lloyd kümmert sich derweil um die sechs genesenden Patienten im Lazarett des Flaggschiffs. Zu meiner Bestürzung mußte ich feststellen, daß auf der Terror fast eine gleich hohe Anzahl Männer ernstlich erkrankt ist.
    Bei vielen von ihnen ist das Leiden jenes, welches wir arctischen Doctores zunächst Heimsucht und dann Faulfieber nannten. Zu den frühen Anzeichen dieser Krankheit gehört neben blutendem Zahnfleisch, geistiger Verwirrung, Schwäche der Gliedmaaßen und zahlreichen Blutergüssen oft ein starker Wunsch, in die Heimat zurückzukehren. Im weiteren Fortgange des Leidens verschlimmern sich die allgemeine Schwäche, das beeinträchtigte Urtheilsvermögen, die Blutungen aus Zahnfleisch und Anus, die offenen Wunden sowie andere Symptome immer weiter, bis der Patient endlich nicht mehr stehen und gehen kann.
    Andere Namen der Heimsucht und des Faulfiebers, welche alle Ärzte, wie auch ich in diesem Falle, nur zögernd laut aussprechen, sind Scharbock und Scorbut.

    Capitain Crozier hat sich gestern ebenfalls schwer leidend in seine Kajüte zurückgezogen. Ich höre sein ersticktes Ächzen, da das Abtheil des verstorbenen Peddie hier auf der achterlichen Steuerbordseite des Schiffs an dasjenige des Capitains angrenzt. Mich dünkt, dieser beißt die Zähne auf etwas Hartem zusammen – vielleicht einem Stück Leder –, auf daß sein Stöhnen nicht gehört werde. Aber ich war schon immer mit einem guten Gehör gesegnet – oder gestraft.
    Heute morgen nach meiner Ankunft übertrug der Capitain die Leitung des Schiffs und der Expedition an Leutnant Little und brachte damit ohne viele Worte zum Ausdruck, daß das Commando in seinen Augen bei seinem Stellvertreter besser aufgehoben sey als bei Capitain Fitzjames. Mir erklärte Crozier daraufhin, er kämpfe gegen eine Rückkehr des Wechselfiebers.
    Dies ist eine Lüge.
    Was ich aus Capitain Croziers Kajüte höre und mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zu meiner Rückkehr zur Erebus am Freitagmorgen hören werde, ist nicht das Stöhnen eines Wechselfiebrigen.
    Aufgrund der Schwächen meines Vaters und meines Onkels kenne ich die Dämonen, mit welchen der Capitain heute Nacht ringt, sehr genau.
    Capitain Crozier ist ein der Trunksucht verfallener Mann. Entweder ist der Branntwein an Bord zur Neige gegangen, oder er hat aus freien Stücken beschlossen, diese Sucht abzuschütteln, und hat nun eine schwere Crisis zu bestehen. Wie auch immer, er muß Höllenqualen leiden, und selbige Qualen werden ihm noch viele Tage zusetzen. Dabei ist es alles andere als ausgemacht, daß er darüber nicht den Verstand verlieren wird. Vorderhand müssen dieses Schiff und die gesammte Expedition ohne ihren wahren Führer auskommen. Sein ersticktes Stöhnen dauert mich, doch noch mehr dauert mich das Schiff, welches in Krankheit und Verzweiflung zu versinken droht.
    Wie gern wollte ich ihm helfen! Und wie gern wollte ich den vielen anderen Leidenden und Siechen – all jenen, die Wunden, Schäden, Verbrennungen, Krankheiten, die Folgen falscher Ernährung und melancholische Verzweiflung zu ertragen haben – auf den beiden im Eise gefangenen
Schiffen helfen. Wie gern wollte ich mir selbst helfen, denn schon glaube ich die ersten Anzeichen der Heimsucht und des Faulfiebers auch an mir zu erkennen.
    Doch es gibt nichts, was ich – oder irgendein anderer Arzt

Weitere Kostenlose Bücher