Terror
bei freier Fahrt im Sommer 1846 brauchte Franklin die Kohlevorräte der Erebus in rasender Geschwindigkeit auf, felsenfest davon überzeugt, dass man nach Durchbrechen der letzten Meilen Packeis das offene Wasser der Nordwestpassage an der Nordküste Kanadas erreichen und schon im Spätherbst Tee in China trinken würde.
»Und wie ist es um unsere eigenen Kohlevorräte bestellt?«
»Sie reichen vielleicht noch für ein halbes Jahr Heizen«, erwidert Thompson. »Aber nur, wenn wir statt zwei Stunden am Tag bloß noch eine Stunde einschüren. Und ich rate dazu, dass wir schon bald damit anfangen – spätestens am ersten November.«
Das sind keine zwei Wochen mehr.
»Und bleibt uns noch Dampf zum Fahren?«
Sollte das Eis im Sommer schwinden, will Crozier sämtliche noch lebenden Männer der Erebus an Bord der Terror holen und alles daransetzen, sich dorthin auf den Weg zu machen, wo sie hergekommen sind: die unbenannte Straße zwischen der
Boothia-Halbinsel und der Prince-of-Wales-Insel hinunter, durch die sie vor zwei Sommern gesegelt kamen, vorbei an der Beechey-Insel und der Barrow-Straße, um durch den Lancaster-Sund zu schießen wie der Korken aus einer Flasche, dann mit vollen Segeln und der letzten Kohle nach Süden in die Baffin-Bucht, ganz gleichgültig, ob sie Möbel und überflüssige Spieren verbrennen müssen, um noch den letzten Dampf zu gewinnen … Hauptsache, sie gelangen in die offenen Gewässer vor Grönland, wo irgendein Walfänger sie entdecken kann.
Aber selbst wenn sie durch ein Wunder aus dem Eis hier freikommen, brauchen sie noch Dampf, um sich in nördlicher Richtung durch das nach Süden treibende Eis im Lancaster-Sund zu kämpfen. Crozier und James Ross sind einmal mit der Terror und Erebus aus dem Eis am Südpol herausgesegelt, doch damals bewegten sich Strömungen und Eisberge in der gleichen Richtung. In der verdammten Arktis dagegen müssen die Schiffe wochenlang gegen die Richtung des vom Pol heruntertreibenden Eises segeln, um die Meeresstraßen zu erreichen, durch die sie entrinnen können.
Thompson zuckt die Achseln. Er wirkt erschöpft. »Wenn wir am Neujahrstag das Heizen einstellen und bis zum nächsten Sommer irgendwie überleben, haben wir, ohne Eis wohlgemerkt, vielleicht genügend Dampfkraft für fünf oder sechs Tage.«
Crozier nickt erneut. Das ist ohne Zweifel das Todesurteil für sein Schiff, aber nicht unbedingt für die Besatzung beider Schiffe.
Aus dem Gang dringt ein Geräusch.
»Danke für Ihren Bericht, Mr. Thompson.« Der Kapitän nimmt sein Licht vom Eisenhaken und tritt aus der Wärme des Kesselraums hinaus in den Matsch und die Dunkelheit.
Draußen wartet Thomas Honey mit einer heftig blakenden Kerzenlaterne. Mit dicken Fäustlingen hält er das Brecheisen
umklammert wie ein Gewehr. Die Tür zur Totenkammer ist noch verriegelt.
»Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind, Mr. Honey«, begrüßt Crozier den Zimmermann.
Ohne weitere Erklärung schiebt der Kapitän die Riegel zurück und betritt das eiskalte Hellegat.
Drinnen kann er der Versuchung nicht widerstehen, nach achtern zum Heckschott zu leuchten, wo die fünf Toten in ihrem gemeinsamen Leichenhemd aus Segeltuch übereinanderliegen.
Auf dem Haufen wimmelt es. Zum Teil hat Crozier so etwas erwartet; zumindest war er darauf gefasst, die Bewegungen von Ratten unter der Persenning zu sehen. Doch jetzt entdeckt er auch auf dem Segeltuch eine dichte Traube aus kleinen pelzigen Körpern. Vier Fuß über Deck ragt ein Berg aus Ratten auf, die zu Aberhunderten darum kämpfen, an die gefrorenen Leichen heranzukommen. Das von draußen kaum zu hörende Quieken ist hier drinnen sehr laut. Auch am Boden tummeln sich Ratten, die ihm und dem Zimmermann durch die Beine huschen. Sie freuen sich auf das Festmahl . Und haben nicht die geringste Angst vor dem Laternenschein.
Nachdem er den Lichtstrahl wieder auf den Rumpf gerichtet hat, stapft Crozier die durch die Backbordkrängung des Schiffs entstandene leichte Steigung hinauf und beginnt, die geschwungene Schiffswand abzusuchen.
Da.
Er hebt die Laterne zu der Stelle hinauf.
»Also, da will ich doch gleich zur Hölle fahren und als Heide gehängt werden«, entfährt es dem Zimmermann. »Entschuldigung, Kapitän Crozier, aber ich hätte nicht gedacht, dass das so früh passiert.«
Crozier bleibt ihm die Antwort schuldig. Er bückt sich, um das verbeulte und verzogene Holz näher zu betrachten.
An dieser Stelle sind die Rumpfplanken von außen so
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