Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
immerhin noch so weit bei Sinnen, dass er diesen Gedanken sofort abschüttelte. Natürlich konnte er die Schlitten aufgeben – und damit etwas tun, was noch kein anderer Trupp getan hatte –, um sich mit seinen Leuten im Lager in Sicherheit zu bringen, aber damit würde er in den Augen seiner einhundertvier überlebenden Männer und Offiziere jeden Führungsanspruch verlieren.
    Obwohl er sich wegen der Schmerzen an seinen zerschundenen Händen noch mehrmals übergeben musste und in einem fernen Winkel seines Bewusstseins zur Kenntnis nahm, dass das Erbrochene im Laternenlicht flüssig und rötlich schimmerte, gab er weiterhin Befehle und fasste mit an, während die siebenunddreißig noch einsatzfähigen Männer mit letzter Kraft die Schlitten über den Eiswall auf die Küste zerrten.
    Als sie das völlig andere Scharren des Gerölls unter den Schlittenkufen hörten, hätte sich Crozier am liebsten auf die Knie geworfen und den festen Boden geküsst. Doch er fürchtete um die Haut auf seinen Lippen.
    Im Terror -Lager brannten Fackeln. Crozier ging im vordersten
Geschirr des ersten Schlittens. Alle richteten sich stolpernd auf, als sie das tote Gewicht der Schlitten und der auf ihnen liegenden Bewusstlosen über die letzten fünfzig Faden schleppten.
    Vor den Zelten warteten Männer in vollen Plünnen. Crozier war gerührt; vermutlich waren die zwei Dutzend Männer, die er dort im Licht der Fackeln stehen sah, drauf und dran gewesen, dem überfälligen Kapitän und ihren Maaten eine Rettungsmannschaft entgegenzuschicken.
    Mit all seinen verbliebenen Kräften stemmte sich Crozier wie die anderen ins Geschirr, um die letzten sechzig Fuß bis zum Lichtschein zu bewältigen. Obwohl seine Hände und Muskeln brannten wie Feuer, versuchte er sich einen kleinen Scherz für die Ankunft zurechtzulegen. Sollte er Weihnachten ausrufen und verkünden, dass alle die nächste Woche durchschlafen durften?
    Doch dann traten Kapitän Fitzjames und andere Offiziere vor, um sie zu begrüßen, und Crozier sah ihre Augen: die Augen von Fitzjames, Le Vesconte, Des Voeux, Couch, Hodgson, Goodsir und allen anderen. Da wusste er – durch Memo Moiras zweites Gesicht, durch seine lange Erfahrung als Kapitän oder einfach nur durch die von Gedanken ungefilterte Wahrnehmung eines grenzenlos erschöpften Menschen –, dass etwas geschehen war, etwas, was die Lage vollkommen verändert und all seine Pläne und Hoffnungen vielleicht für immer zunichte gemacht hatte.

37
Irving
    69°37′42′′ NÖRDLICHE BREITE | 98°40′58′′ WESTLICHE LÄNGE 24. APRIL 1848
     
     
     
    Z ehn Eskimos standen vor Irving: sechs Männer unbestimmten Alters, ein Greis ohne Zähne, ein Junge und zwei Frauen. Eine der Frauen war alt mit eingesunkenem Mund und einem Gesicht, das nur aus Runzeln bestand, die andere noch ganz jung. Vielleicht Mutter und Tochter.
    Die Männer waren durchweg von kleiner Statur; der Größte reichte dem hochgewachsenen Leutnant kaum bis ans Kinn. Zwei hatten die Kapuzen zurückgeworfen und ließen wilde schwarze Mähnen und faltenlose Gesichter erkennen. Die anderen Männer starrten ihn aus ihren tiefen Kapuzen an. Diese waren zum Teil mit einem üppigen weißen Pelz gefüttert, der vielleicht von Polarfüchsen stammte. Andere Kapuzenkrausen waren dunkler und struppiger. Irving vermutete, dass es sich um Vielfraßfell handelte.
    Alle Männer mit Ausnahme des Jungen trugen eine Waffe – entweder eine Harpune oder einen kurzen Speer mit Knochen- oder Steinspitze. Nachdem Irving näher getreten war und seine leeren Hände gezeigt hatte, richtete sich keiner der Speere mehr gegen ihn. Die Eskimomänner standen locker und breitbeinig da, die Hände auf ihren Waffen. Jäger vermutlich. Der
Alte blieb hinten beim Schlitten, neben sich den Jungen. Vor den Schlitten, der viel kleiner war als selbst der kleinste Klappschlitten auf der Terror , waren sechs Hunde gespannt. Diese bellten und fletschten knurrend die Zähne, bis ihnen der Alte mit einem Stock mehrere Schläge versetzte.
    Während er fieberhaft überlegte, wie er sich mit diesen Leuten verständigen sollte, staunte Irving immer noch über ihre Kleidung. Die Anoraks der Männer waren kürzer und dunkler als der von Lady Silence und ihrem verstorbenen Begleiter, aber genauso pelzig. Das dunkle Fell konnte von Rentieren oder von Füchsen stammen, doch die knielangen weißen Hosen waren bestimmt von Eisbären. Einige der langen, haarigen Stiefel bestanden vielleicht aus

Weitere Kostenlose Bücher