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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Hoffnung zurück, dass die gehfähigen Männer nicht für immer fortgezogen waren, dass sie nur unten bei den Booten zu tun hatten und bald wiederkommen würden. Doch dann erkannte Jopson, dass die meisten Hollandzelte verschwunden waren.
    Nein, nicht verschwunden. Als sich seine Augen allmählich an das gedämpfte Licht gewöhnt hatten, bemerkte er, dass die meisten Zelte hier am Südende des Lagers zu Boden gelassen und mit Steinen beschwert worden waren, damit sie nicht weggeweht wurden. Jopson war verwirrt. Wenn sie wirklich weggingen, würden sie da nicht die Zelte mitnehmen? Es war, als wollten sie hinaus aufs Eis, um dann bald wiederzukommen. Aber wohin wollten sie? Und warum? Der kranke und noch vor kurzem von Wahnbildern geplage Steward konnte sich keinen Reim darauf machen.
    Dann lichtete sich der Nebel ein wenig, und er entdeckte die Männer, die in einer Entfernung von fünfzig Faden die Boote hinaus aufs Eis schoben und zogen. Nach Jopsons Schätzung waren ungefähr zehn Mann bei jedem Boot. Das hieß, dass alle oder fast alle Überlebenden aus dem Lager aufbrachen. Nur er und die anderen Kranken blieben zurück.
    Wie kann mich Dr. Goodsir einfach so zurücklassen? Jopson versuchte sich an das letzte Mal zu erinnern, da ihm der Arzt Kopf und Schultern gestützt hatte, um ihm Brei einzuflößen oder ihn zu waschen. Gestern war es der junge Hartnell gewesen, oder? Oder ging das schon mehrere Tage so? Er wusste nicht mehr, wann ihn der Arzt zuletzt besucht und ihm seine Medizin gebracht hatte.
    »Wartet!«, rief er.

    Doch es war kein Ruf. Es war kaum ein Krächzen. Jopson wurde klar, dass er schon seit mehreren Tagen, vielleicht sogar schon seit Wochen nicht mehr gesprochen hatte. Der Laut, den er gerade von sich gegeben hatte, klang selbst in seinen Ohren schwach und gedämpft.
    »Wartet!« Auch diesmal war kaum etwas zu hören. Er erkannte, dass er mit dem Arm winken musste, damit sie auf ihn aufmerksam wurden, zu ihm zurückkamen.
    Doch Thomas Jopson war nicht in der Lage, einen Arm zu heben. Allein der Versuch genügte, dass er mit dem Gesicht nach vorn ins Geröll stürzte.
    Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu kriechen, bis sie ihn bemerkten und sich ihm zuwandten. Sie konnten doch nicht einfach einen Schiffsmaat zurücklassen, der ihnen noch fünfzig Faden weit hinaus aufs Eis nachkroch.
    Auf seinen zerschundenen Ellbogen wand sich der Steward drei Fuß weiter, dann sackte er erneut vornüber auf den steinigen Boden. Ringsumher zogen Nebelschwaden auf und verbargen selbst sein eigenes Zelt, das nur wenige Schritte hinter ihm lag. Der Wind stöhnte, oder vielleicht waren es andere im Stich gelassene Kranke in den wenigen noch stehenden Zelten. Die Kälte fuhr ihm durch das schmutzige Wollhemd und die Hose. Jopson fiel ein, dass er es vielleicht gar nicht mehr zum Zelt zurückschaffen würde, wenn er sich zu weit davon entfernte. Dann würde er hier draußen in der Kälte und Feuchtigkeit jämmerlich erfrieren.
    »Wartet!« Sein Ruf ähnelte dem schwachen Wimmern eines neugeborenen Katzenjungen.
    Wieder kroch und schlängelte er sich drei Fuß weit … vier … und lag dann röchelnd da wie eine aufgespießte Robbe. Seine geschwächten Arme halfen ihm nicht mehr, als Flossen es vermocht hätten … nein, noch weniger.
    Jopson bohrte das Kinn in die gefrorene Erde, um noch einen
oder zwei Fuß voranzukommen. Obwohl sofort einer seiner letzten Zähne entzweibrach, grub er das Kinn erneut ins Geröll, um es noch einmal zu versuchen. Aber sein Körper war einfach zu schwer. Als wäre er mit großen Gewichten am Boden befestigt.
    Ich bin doch erst einunddreißig Jahre alt , dachte er wütend. Heute ist mein Geburtstag.
    »Wartet … wartet … wartet … wartet.« Jedes Wort kam schwächer heraus als das vorausgegangene.
    Mit rasselndem Atem wie ein gestrandeter Fisch lag Jopson auf dem Bauch, die toten Arme an den Seiten. Die letzten Strähnen seines Haars zogen rote Schlieren über die runden Steine, als er das Kinn auf die kalte Erde legte, um gerade nach vorn blicken zu können.
    »Wartet …«
    Der Nebel bildete einen Strudel und lichtete sich.
    Er sah fünfzig Faden weit über die merkwürdig leer wirkende Stelle, wo die Boote gelagert hatten, über den Geröllstreifen und das wirre Küsteneis. Vierzig Männer und vier Boote – wo ist das fünfte? – mühten sich nach Süden, hinaus aufs Seeeis. Selbst aus dieser Entfernung war zu erkennen, wie schwach sie waren. Ihre Bewegungen

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