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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gesetzt und alle Boote beladen wurden.
    Wie kann es sein, dass sie mich zurücklassen? Jopson wollte es nicht wahrhaben. Hatte er Kapitän Crozier nicht immer treu zur Seite gestanden während seiner Krankheiten, der Anfälle tiefer Schwermut und offener Trunksucht? Hatte er nicht klaglos und in aller Stille, wie es sich für einen guten Steward gehörte, mitten in der Nacht ganze Kübel von Erbrochenem aus der Kajüte des Kapitäns geschleppt und dem irischen Trunkenbold auch noch den Arsch abgewischt, wenn er sich im Fieberwahn vollschiss?

    Vielleicht ist das ja der Grund, warum mich der Schweinehund hier verrecken lässt.
    Mit aller Kraft riss Jopson die Augen auf und versuchte sich in seinem feuchten Schlafsack auf die Seite zu wälzen. Von seiner Körpermitte strahlte eine alles verzehrende Schwäche aus. Sein Kopf drohte zu platzen, als er die Augen öffnete. Die Erde unter ihm stampfte schlimmer als jedes Schiff, mit dem er bei schwerem Seegang um Kap Horn gesegelt war. Das Ziehen in seinen Knochen war kaum zu ertragen.
    »Wartet auf mich!«, schrie er. Nein, er hatte nicht geschrien, es war nur ein stummer Gedanke. Er musste sich anstrengen … musste sie einholen, bevor sie die Boote hinaus aufs Eis schoben … musste ihnen beweisen, dass er sich genauso gut wie jeder andere ins Geschirr legen konnte. Vielleicht konnte er sie hinters Licht führen, wenn er etwas von diesem stinkenden, verrotteten Robbenfleisch in sich hineinstopfte.
    Jopson konnte es nicht fassen, dass sie ihn behandelten wie einen Toten. Er war ein lebender Mensch, der bei der Navy viel geleistet hatte, der als persönlicher Steward über ausgezeichnete Erfahrungen verfügte und der sich auch als Privatmann und Untertan Ihrer Majestät genauso wenig zuschulden hatte kommen lassen wie irgendein anderer Teilnehmer der Expedition. Ganz zu schweigen von seiner Familie und dem Haus in Portsmouth  – falls Elisabeth und sein Sohn Avery noch am Leben und nicht aus dem Haus vertrieben worden waren, das sie mit dem Vorschuss von achtundzwanzig Pfund auf Thomas Jopsons erstes Expeditionssalär von fünfundsechzig Pfund pro Jahr gemietet hatten.
    Inzwischen schien das Rettungslager leer, nur einzelne leise Stöhnlaute wehten herüber, die vielleicht aus nahe gelegenen Zelten drangen oder auch nur vom Wind verursacht wurden. Das übliche Knirschen von Stiefeln auf dem Geröll, das leise Fluchen, das seltene Lachen, die Unterhaltungen der Männer,
die zur Wache gingen oder gerade von ihr kamen, die Rufe zwischen den Zelten, das Lärmen von Hammer und Säge, der Geruch nach Pfeifentabak – das alles war verschwunden. Lediglich die schwächer werdenden Geräusche aus Richtung der Boote waren zu hören. Die Männer brachen tatsächlich auf.
    Thomas Jopson hatte nicht vor, einfach liegen zu bleiben und in diesem Lager am Ende der Welt einsam vor die Hunde zu gehen.
    Mit einer Kraft, die er sich selbst schon nicht mehr zugetraut hätte, zerrte sich Jopson seinen aus Decken genähten Schlafsack von den Schultern und versuchte, sich in mühsamen Windungen daraus zu befreien. Die Sache wurde nicht einfacher dadurch, dass er Schweiß, Blut und andere Körperflüssigkeiten, die an ihm festgefroren waren, von Haut und Wolle losreißen musste, ehe er sich dem Zeltausgang nähern konnte.
    Nachdem er eine schier endlose Strecke auf den Ellbogen zurückgelegt hatte, stürzte Jopson schließlich durch die Zelttür. Er ächzte, als ihn die kalte Luft traf. Er hatte sich so sehr an das von Leinwand getrübte Licht und die stickige Luft in seiner Zeltgruft gewöhnt, dass ihm Tränen in die zusammengekniffenen Augen schossen und er ein kaltes Brennen in der Lunge spürte.
    Bald merkte Jopson, dass er sich die grelle Sonne nur eingebildet hatte. In Wirklichkeit war es ein dunkler, nebliger Morgen, der seine eisigen Dämpfe durch die Zelte sandte wie die Geister der vielen Toten, die sie unterwegs zurückgelassen hatten. Das erinnerte den Kapitänssteward an den dichten Nebel an dem Tag, als sie Leutnant Little, den Eislotsen Reid, Harry Peglar und die anderen in die offene Fahrrinne im Eis geschickt hatten.
    Direkt in den Tod.
    Jopson wälzte sich über den Schiffszwieback und das Robbenfleisch  – beides hatten ihm die Männer hingelegt, als müssten
sie einem heidnischen Götzen ein Opfer bringen – und zerrte seine völlig gefühllosen Beine hinaus durch die runde Zeltöffnung.
    Als er draußen gleich in der Nähe einige Zelte erblickte, kehrte kurz die

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