Terror
Rettungslager entfernt.
Taliriktuq wanderte allein hinüber. Ref 19
Es war nicht das erste Mal, dass er zurückkam. Vor zwei Sommern, nur wenige Wochen nach Tulugaqs Geburt, waren Silna und er hier gewesen. Das war nur wenig mehr als ein Jahr, nachdem der Mann, der Taliriktuq gewesen war, in einen Hinterhalt
gelockt und niedergeschossen worden war wie ein Hund. Trotzdem war fast nicht mehr zu erkennen, dass hier einmal über siebzig Engländer ihr Lager aufgeschlagen hatten. Bis auf mehrere im Geröll festgefrorene Leinwandfetzen waren die Hollandzelte längst verweht worden. Nur noch einige Lagerfeuerringe und Zeltbefestigungen aus Steinen waren übrig.
Und Knochen.
Er fand mehrere lange Knochen, zerbissene Rückenwirbel und einen Schädel, dem der Unterkiefer fehlte. Als er den Schädel vor zwei Sommern in der Hand hielt, hatte er zu Gott gebetet, dass es nicht Dr. Goodsir war.
Die verstreuten und von Eisbären zernagten Gebeine hatte er zusammen mit dem Schädel in einem schlichten Steingrab beigesetzt und eine Gabel, die er im Geröll entdeckt hatte, in die Spitze des Steinhaufens gesteckt. Damit folgte er dem Brauch der Echten Menschen und auch der Gottwandler, die den Toten für ihre Reise in die Geisterwelt gern nützliche und vertraute Gegenstände mitgaben.
Zugleich war ihm klar, dass die Inuit diese Geste für eine schreckliche Verschwendung von kostbarem Metall gehalten hätten. Dann dachte er über ein Gebet nach.
Die Gebete der Inuit, die er in den letzten drei Monaten gehört hatte, waren nicht geeignet. In diesem Sommer hatte er sich angestrengt, Inuktitut zu lernen, obwohl er nie in der Lage sein würde, eine Silbe davon laut auszusprechen. Dabei hatte er aus Spaß das Vaterunser übersetzt.
Als er an diesem Abend am Grabmal seiner ehemaligen Schiffsmaaten stand, versuchte er sich an das Gebet zu erinnern.
Nalegauvit kailaule. Pijomajat pinartaule nuname sorlo kilangme …
Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name.
Weiter war er vor zwei Sommern nicht gekommen, aber für sein Gefühl hatte es gereicht.
Jetzt, zwei Jahre später, kehrte Taliriktuq aus dem Rettungslager zurück zu seiner Frau. Der Ort war noch leerer gewesen als damals. Die Gabel war verschwunden, und das Grabmal war von Echten Menschen aus dem Süden geöffnet und geplündert worden. Nicht einmal einen Knochen hatte er mehr gefunden.
Er musste lächeln bei dem Gedanken, dass er die Sprache der Inuit nie beherrschen würde, selbst wenn ihm die biblischen siebzig Jahre gewährt wurden. Alle Wörter, sogar einfache Substantive, schienen eine Vielzahl von Varianten zu haben, und die Feinheiten des Satzbaus überstiegen bei weitem die Fähigkeiten eines Mannes in mittleren Jahren, der schon als Junge zur See gegangen war und nie auch nur Latein gelernt hatte. Zum Glück musste er diese Sprache nie sprechen. Allein schon von dem Bemühen, dem Fluss der Schnalz- und Knacklaute zu folgen, bekam er ähnliche Kopfschmerzen, wie sie ihn damals geplagt hatten, als Silna zum ersten Mal ihre Träume mit ihm teilte.
Zum Beispiel der Große Bär. Der einfache Eisbär. Die Gottwandler und die anderen Echten Menschen, die er in den vergangenen zwei Jahren kennengelernt hatte, nannten ihn nanuq, was nicht weiter schwer war. Aber er hatte auch Varianten gehört wie nanoq, nanuvik, nanuraluk, takuaqtuaqtuq, pisuktuq oder ajualunaq. Und von Inupijuk, dem Jäger aus dem Süden, der keineswegs so dumm war, wie Asiajuq immer noch behauptete, hatte er jetzt erfahren, dass der Große Bär von vielen nördlichen Sippen der Echten Menschen auch tôrnârssuk genannt wurde.
Mehrere schmerzvolle Monate lang, in denen seine Wunde verheilte und er neu essen und schlucken lernen musste, war er vollkommen damit zufrieden gewesen, keinen Namen zu haben. Dann zog er auf der Jagd in jenem ersten Sommer ganz allein einen toten Bären aus dem Wasser, was vorher drei Jägern samt
einem Hundegespann nicht gelungen war. Er wusste zwar, dass das nicht an seinen übermenschlichen Kräften gelegen hatte, sondern daran, dass er als Einziger erkannte, wo sich die Harpunenleine an einem Eisvorsprung verfangen hatte. Dennoch nannte ihn Asiajuqs Sippe von da an Taliriktuq, »Starker Arm«. Er hatte nichts gegen den neuen Namen, auch wenn er sich als Namenloser wohler gefühlt hatte. Asiajuq ließ ihn wissen, dass er jetzt das Seelengedächtnis eines früheren »Starken Arms« in sich trug, der von der Hand der kabloona gestorben war.
Als er und
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