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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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keine Zunge, doch ihre Stimmbänder sind unversehrt. Von seinem Atem in Schwingung versetzt, erzeugen sie hohe, reine Töne.
    Sie bläst Musik aus seiner Kehle. Er bringt Musik aus ihrer hervor. Das Eröffnungsthema wird schneller und fängt an, sich zu überschneiden. Das Tonspektrum wird komplexer. Der Kehlgesang klingt zugleich nach Flöten und Oboen, rührt aber dennoch unverkennbar von der Stimme eines Menschen her. Auf dem farbenschimmernden Eis ist er meilenweit zu hören.
    In der ersten halben Stunde halten sie alle drei Minuten inne, um nach Luft zu ringen. Beim Üben sind sie in diesen Pausen oft in Lachen ausgebrochen. Wie sie ihm mit ihren Fadenzeichen erklärt hat, gehört es bei diesem unter Frauen verbreiteten Spiel dazu, die andere Kehlkopfsängerin zum Lachen zu bringen. Aber heute lachen sie nicht.
    Von neuem beginnt die Musik.
    Das Lied wird zum Gesang einer einzelnen menschlichen Stimme, die zugleich basstief und flötenhoch erklingt. Sie atmet durch seine Stimmbänder und lässt dadurch Worte entstehen, die in die Nacht hinausströmen.
    Sie improvisieren. Wenn einer den Rhythmus wechselt, muss der andere folgen. In dieser Hinsicht hat der Kehlgesang große Ähnlichkeit mit dem Liebesspiel.
    Er findet den geheimen Raum zwischen den Klängen, in den er atmen muss, so dass sie länger singen und tiefere, reinere Töne hervorbringen können. Der Rhythmus steigert sich fast zu
einem Höhepunkt, wird langsamer und dann wieder schneller. Hin und her geht es, einer wechselt das Tempo und den Rhythmus, der andere folgt wie ein Liebender und übernimmt seinerseits die Führung. So singen sie eine Stunde und dann zwei Stunden; manchmal zwanzig Minuten lang ohne Unterbrechung.
    Seine Zwerchfellmuskeln schmerzen. Seine Kehle brennt. Die Töne und der Rhythmus haben jetzt die Komplexität von einem Dutzend Instrumenten, die miteinander verwoben zum Crescendo einer Sinfonie ansetzen.
    Er lässt sie führen. Die einzelne Stimme, die beide erzeugen, die Klänge und Worte, die beide sprechen, sind ihre und erklingen durch ihn. Er unterwirft sich.
    Schließlich verstummt sie und sinkt neben ihm auf die Knie. Beide sind sie so erschöpft, dass ihnen der Kopf auf die Brust sinkt. Sie ächzen und keuchen wie Hunde, die sechs Meilen gerannt sind.
    Das Krachen des Eises hat aufgehört. Das Brausen des Windes ist verklungen. Das Polarlicht über ihnen pulsiert nur noch träge.
    Sie berührt sein Gesicht und steht auf. Dann wendet sie sich ab, kriecht in das Zelt und schließt den Eingang hinter sich.
    Mit letzter Kraft erhebt er sich und zieht seine Kleider aus. Obwohl er nackt ist, spürt er die Kälte nicht mehr.
    Eine offene Rinne im Eis hat sich bis auf dreißig Fuß der Stelle genähert, wo sie ihre Musik gespielt haben, und jetzt geht er darauf zu. Das Pochen in seiner Brust will nicht langsamer werden.
    Am Rand des Wassers kniet er sich wieder hin und hebt das Gesicht mit geschlossenen Augen zum Himmel.
    Er hört es, als es keine fünf Fuß vor ihm aus dem Wasser auftaucht, hört das Scharren seiner Krallen auf dem Eis und das Schnauben, als es sich hinaufstemmt, hört das Ächzen des Eises
unter seinem Gewicht. Aber er senkt nicht den Kopf und öffnet auch nicht die Augen. Noch nicht.
    Seewasser umspült seine nackten Knie, droht ihn am Eis festfrieren zu lassen. Er bewegt sich nicht.
    Er riecht den nassen Pelz, das nasse Fleisch, den Gestank vom Grund des Ozeans. Er spürt den auf ihn fallenden Polarlichtschatten, doch er öffnet die Augen nicht. Noch nicht.
    Erst als ihn eine Gänsehaut überläuft vor der Präsenz, die ihn einzuschließen beginnt, und erst als ihn der Atem des Fleischfressers umfängt, schlägt er die Augen auf.
    Ein tropfender Pelz wie die enganliegenden weißen Gewänder eines Priesters. Rote Brandnarben im Weiß. Schwarze Augen, die tief in ihn hinabblicken, Raubtieraugen, die nach seiner Seele suchen … die erkennen wollen, ob er eine Seele hat. Schwankend beugt sich der riesige dreieckige Schädel herab und verdunkelt den tosenden Himmel.
    Er unterwirft sich nicht dem Tuunbaq oder dem Universum, die die blaue Flamme in seiner Brust auslöschen wollen, er ergibt sich dem Menschen, bei dem er sein, und dem Menschen, zu dem er werden will, indem er aufs Neue die Augen schließt, den Kopf zurücklegt, den Mund öffnet und weit die Zunge herausstreckt, so wie es ihm Memo Moira für die heilige Kommunion beigebracht hat.

67
Taliriktuq
    68°30′ NÖRDLICHE BREITE | 99° WESTLICHE LÄNGE
28.

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