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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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MAI 1851
     
     
     
    I m Frühling des Jahres, in dem ihr zweites Kind geboren wurde, ein Mädchen, waren sie bei Silnas Familie zu Gast. Diese gehörte zu einer Sippe der Gottwandler, der der alte Schamane Asiajuq vorstand. Von einem durchkommenden Jäger namens Inupijuk hörten sie, dass kabloona, weiße Menschen, die inzwischen tot waren, einer Gruppe Echter Menschen tief im Süden wertvolle Gegenstände aus Holz und Metall geschenkt hatten.
    Taliriktuq machte Asiajuq Zeichen, und dieser übersetzte die Zeichen in Fragen an Inupijuk. Es klang, als könnte es sich bei den aittuusiat, den Geschenken, um Messer, Gabeln und andere Sachen von den Booten der Erebus und der Terror handeln.
    Asiajuq flüsterte Taliriktuq und Silna zu, dass Inupijuk ein qavak sei, ein »Mann aus dem Süden«, was auf Inuktitut aber auch »Dummkopf« hieß. Taliriktuq nickte, ließ seine Hände aber weiter Fragen stellen, die der mürrische Schamane an den unsicher grinsenden Jäger weitergab. Inupijuks Verlegenheit war zum Teil sicher darauf zurückzuführen, dass der Jäger aus dem Süden noch nie mit Geistherrschern zusammengetroffen war und nicht wusste, ob Taliriktuq und Silna überhaupt Menschen waren oder nicht. Ref 18

    Doch sein Bericht klang durchaus glaubwürdig. Taliriktuq und seine Frau gingen zurück zu ihrem Iglu. Sie gab dem Kind die Brust, und er ließ sich das Ganze durch den Kopf gehen. Als er aufblickte, machte sie ihm Zeichen mit ihrem Fadenspiel.
    Wenn du es willst, können wir nach Süden ziehen.
    Er nickte.
    Inupijuk erklärte sich bereit, sie zu dem Dorf im Südosten zu führen, und Asiajuq beschloss, sie zu begleiten. Dies war äußerst ungewöhnlich, der alte Schamane nahm nur noch selten weite Reisen auf sich. Asiajuq brachte seine Hauptfrau Lichtstrahl mit – die junge Qaumaniq mit den großen Brüsten, amaamak –, die von der tödlichen Begegnung der Sippe mit den kabloona vor drei Jahren ebenfalls Narben davongetragen hatte. Sie und der Schamane waren die einzigen Überlebenden des Massakers, doch die junge Frau hegte keinen Groll gegen Taliriktuq. Sie wollte nur wissen, was aus den letzten kabloona geworden war, die vor drei Sommern übers Eis nach Süden gezogen waren.
    Auch sechs Jäger der Gottwandler-Sippe wollten mitkommen, zum Teil aus Neugier, zum Teil, um unterwegs zu jagen, weil das Eis in der Meeresstraße in diesem Jahr sehr früh aufbrach. So machten sie sich in mehreren Booten auf den Weg, da sich an der Küste bereits Fahrrinnen öffneten.
    Taliriktuq, Silna und ihre beiden Kinder reisten in ihrem langen Doppel-qajaq, ebenso wie vier von den Jägern, aber Asiajuq war zu alt und würdevoll, um ein Paddel in die Hand zu nehmen. Er saß mit Qaumaniq in einem geräumigen umiaq, und die zwei anderen Jäger ruderten für ihn. Niemand machte es etwas aus, auf den umiaq zu warten, wenn kein Wind in seine Segel blies, da das dreißig Fuß lange Fellboot so viel frische Lebensmittel geladen hatte, dass sie nur selten zum Jagen oder Fischen anhalten mussten, außer sie hatten Lust darauf. So konnten sie auch ihren qamutik, den Schlitten, mitnehmen, für den Fall, dass sie über Land reisen mussten. Inupijuk, der Jäger aus dem Süden,
fuhr im umiaq, der außerdem noch sechs qimmiit, Hunde, transportierte.
    Asiajuq bot Silna großzügig an, mit ihren Kindern im ohnehin schon vollen umiaq zu fahren, doch sie zog den qajaq vor. Taliriktuq wusste, dass seine Frau niemals ihre Kinder – vor allem nicht die erst zwei Monate alte Kanirjuk – auf so engem Raum mit den aggressiven Hunden zusammengesteckt hätte. Ihr zweijähriger Sohn Tulugaq, der Rabe, hatte keine Angst vor Hunden, aber er wurde nicht gefragt. Er saß in der Nische des qajaqs zwischen Taliriktuq und Silna. Die kleine Kanirjuk, deren geheimer silam-inua-Name Arnaaluk war, saß in Silnas amoutik, einer großen Tragekapuze für Säuglinge.
    Am Morgen der Abreise war es kalt und klar. Als sie von dem Geröllstrand ablegten, sangen die fünfzehn zurückbleibenden Angehörigen der Gottwandlersippe ihr Lebt-wohl-kommtwieder-Lied:
    Ai jei jai ja na
Je he je je ji jan e ja qana
Ai je ji jai jana.
    Es war die zweite Nacht, die letzte, bevor sie von der angilak qikiqtag durch offene Rinnen nach Süden durchstoßen wollten. James Ross hatte diese »größte Insel« vor langer Zeit King-William-Land genannt und sich nicht darum geschert, dass die Eingeborenen immer nur von qikiqtaq, qikiqtaq, qikiqtaq sprachen. Ihr Rastplatz lag keine Meile vom

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