Terror
ihnen der Rücken zu brechen und die Gedärme zu reißen drohten. Jedes Mal, wenn sie erlahmen wollten, feuerte Sir John sie mit der Verheißung an, dass das offene Küstenwasser nur noch zwanzig oder dreißig Meilen vor ihnen lag.
Doch das offene Wasser hätte genauso gut auf dem Mond sein können.
In der bereits länger werdenden Nacht des 15. September 1846 stürzte die Temperatur schlagartig auf achtzehn Grad minus, und das Eis scheuerte ächzend gegen die Schiffsrümpfe. Am Morgen konnte jeder, der an Deck kam, mit eigenen Augen erkennen, dass sich die See in eine durchgehende weiße Fläche verwandelt hatte, die sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Zwischen plötzlichen Schneeböen gelang es Crozier und Fitzjames, ihre Fernrohre auf die Sonne zu richten und so die Position der Schiffe festzustellen. Beide Offiziere berechneten, dass sie ungefähr siebzig Grad, fünf Minuten nördlicher Breite
und achtundneunzig Grad, dreiundzwanzig Minuten westlicher Länge, rund fünfundzwanzig Meilen vor der Nordwestküste von King-William-Land, im Eis eingeschlossen waren. Ob es sich um Festland handelte oder um eine Insel, hatte nun keine Bedeutung mehr.
Sie waren mitten im offenen Meereis gestrandet und konnten jetzt nur noch ohnmächtig auf die von Mr. Blanky prophezeite Gletscherkette warten, die den weiten Weg vom Nordpol zurückgelegt hatte und nun unaufhaltsam aus dem Nordwesten gegen sie heranrückte. In einem Umkreis von hundert Meilen gab es keinen schützenden Zufluchtsort, und selbst wenn, wäre er unerreichbar für sie gewesen.
Um zwei Uhr am Nachmittag desselben Tages erteilte Kapitän Franklin Befehl, auf der Erebus und Terror das Befeuern der Maschinen einzustellen. Aus beiden Kesseln wurde Dampf abgelassen. Der Druck wurde so weit gesenkt, dass man damit nur noch warmes Wasser durch die Heizrohre auf den Unterdecks der Schiffe pumpen konnte.
Sir John hielt keine Ansprache vor den Männern. Das war auch nicht nötig. Als sich die Leute an diesem Abend auf der Erebus in ihre Decken hüllten und Hartnell wie üblich ein Gebet für seinen toten Bruder murmelte, zischte ihn der fünfunddreißigjährige Matrose Seeley aus der benachbarten Hängematte an: »Wir sitzen jetzt in der pechschwarzen Scheiße, Tommy, da helfen auch keine frommen Sprüche mehr – weder deine noch die von Sir John. Zumindest nicht die nächsten zehn Monate.«
8
Crozier
70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
9. NOVEMBER 1847
S eit der schicksalhaften Besprechung an Bord der Erebus sind ein Jahr, zwei Monate und sechs Tage vergangen, und noch immer sind die beiden Schiffe an der gleichen Stelle eingefroren wie an jenem Septembertag des Jahres 1846. Zwar drängt aus dem Nordwesten unaufhaltsam eine gewaltige Strömung heran, doch hat sie im Verlauf des letzten Jahres nur die gefrorene Masse samt Eisbergen, Pressrücken und den beiden eingeschlossenen Schiffen der Royal Navy langsam um sich selbst gedreht.
Nach wie vor sitzen sie auf ihrer Position rund fünfundzwanzig Meilen nordnordwestlich von King-William-Land fest und kreisen träge wie ein Rostfleck auf einer der metallenen Musikscheiben in der Offiziersmesse.
Kapitän Crozier hat diesen ganzen Novembertag – der nicht heller ist als die Nacht – mit der Suche nach den vermissten Mannschaftsmitgliedern William Strong und Thomas Evans verbracht. Eigentlich gibt es für beide Männer keine Hoffnung mehr, ja vielmehr besteht die Gefahr, dass sich das Ungeheuer aus dem Eis auch noch andere Schiffsmaaten holt. Aber sie suchen
trotzdem. Weder für den Kapitän noch für die Mannschaft kommt etwas anderes in Frage.
Vier Trupps zu je fünf Männern, von denen einer zwei Laternen und die anderen schussbereite Flinten oder Büchsen tragen, sind draußen auf dem Eis und werden alle vier Stunden abgelöst. Wenn ein Trupp frierend und schlotternd zurückkommt, wartet auf Deck schon eine Ersatzabteilung in Kaltwetterplünnen mit geladenen Waffen und frisch mit Öl gefüllten Lampen. Diese Männer setzen die Suche an der Stelle fort, wo ihre Vorgänger aufgehört haben.
Ausgehend vom Schiff bewegen sich die vier Trupps in stetig größer werdenden Kreisen durch das eisige Labyrinth, und ihre Laternen blitzen durch den Nebel und die Finsternis zu den Ausgucksposten an Deck herüber, wenn sie gerade nicht hinter Hümpeln, Eisfelsen und Pressrücken oder aufgrund der Entfernung verschwinden. In Begleitung eines Seemanns mit roter Lampe hastet
Weitere Kostenlose Bücher