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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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irgendjemand in der allgemeinen Kopflosigkeit von einem Kameraden niedergeschossen wird.«
    Crozier schaut Peddie mit festem Blick ins Gesicht. Hätte einer seiner Offiziere oder Matrosen so mit ihm gesprochen, hätte er den Mann auspeitschen lassen. Der Kapitän hält dem Arzt seinen zivilen Stand und die Erschöpfung zugute. Dr. MacDonald hat drei Tage lang mit Grippe in seiner Koje gelegen, und Peddie hat in dieser Zeit kaum ein Auge zugetan. »Bitte überlassen Sie die Sorge um die Gefahren einer fortgesetzten Suche mir, Mr. Peddie. Sie kümmern sich ausschließlich darum, die Männer zusammenzuflicken, die so dumm waren, sich bei fünfzig Grad minus Metall an die nackte Haut zu halten. Außerdem, wenn dieses Wesen Sie verschleppen würde, wären Sie da nicht auch froh, wenn nach Ihnen gesucht wird?«
    Peddies Lachen klingt hohl. »Wenn mich dieses Exemplar der Gattung Ursus maritimus irgendwohin verschleppt, Sir, dann
kann ich nur hoffen, dass ich mein Skalpell bei mir habe – um es mir selbst ins Auge zu stechen.«
    »Dann behalten Sie Ihr Skalpell immer schön in Griffweite, Mr. Peddie.« Damit tritt Crozier durch den Vorhang hinaus in die merkwürdige Stille im Mannschaftslogis.
    Im sanften Lichtschein der Kombüse wartet Jopson mit einem Tuch voll heißem Zwieback.
     
     
    Crozier genießt den Marsch, obwohl er bei der auf ihn eindringenden Kälte das Gefühl hat, dass seine Wangen, Finger, Beine und Füße brennen wie Feuer. Aber immer noch besser als Taubheit in den Gliedmaßen. Er genießt das Gehen trotz der Gewissheit, dass er zwischen dem leisen Ächzen und plötzlichen Kreischen des Eises, das sich unter ihm und überall um ihn herum in der Dunkelheit bewegt, und dem unablässigen Jammern des Windes noch etwas anderes hört. Etwas, das ihn belauert.
    Nach zwanzig Minuten – er hat ungefähr einViertel des Weges hinter sich, zum größten Teil eine Kletter- und Rutschpartie über Eishügel – schieben sich die Wolken auseinander. Ein Dreiviertelmond erscheint und beleuchtet die bizarre Landschaft. Er ist so hell, dass rings um ihn ein Lichthof aus Eiskristallen erstrahlt, nein, eigentlich sind es sogar zwei konzentrische Höfe, und der Durchmesser des größeren erstreckt sich über ein Drittel des östlichen Nachthimmels. Sterne sind keine zu sehen. Crozier dreht seine Lampe zurück, um Öl zu sparen, und stapft weiter. Mit der Bootsstake, die er zu diesem Zweck mitgenommen hat, prüft er jede schwarze Furche vor sich, um sicher zu sein, dass es keine Spalte, kein Abgrund ist. Inzwischen hat er das Gebiet erreicht, wo der Eisberg den Mond verdeckt und die schorfige Fläche fast eine Viertelmeile weit in einen tiefen, gespenstisch verzerrten Schatten taucht. Jopson und Little haben ihn gedrängt, eine Flinte mitzunehmen, aber er wollte sich nicht
mit dem Gewicht belasten. Außerdem glaubt er nicht, dass ihm gegen den Feind, den sie im Sinn haben, eine Flinte recht viel nutzen würde.
    In einem Augenblick, da es bis auf seinen keuchenden Atem auf einmal seltsam still ist, fällt Crozier ein Erlebnis aus seiner Jugend ein. Als kleiner Junge kehrte er einmal spät am Abend heim, nachdem er den Nachmittag zusammen mit Freunden in den winterlichen Hügeln verbracht hatte. Zuerst rannte er ungestüm über die reifbedeckte Heide, doch eine halbe Meile vor seinem Elternhaus hielt er inne. Er weiß noch genau, wie er dastand und die beleuchteten Fenster des Dorfes betrachtete, während das letzte Dämmerlicht aus dem Himmel wich und die umliegenden Hügel zu undeutlichen schwarzen Schemen wurden, die ihm auf einmal ganz fremd erschienen, bis schließlich auch sein Haus am Dorfrand in der anbrechenden Nacht alle Konturen verlor. Schnee begann zu fallen, und er verharrte allein in der Dunkelheit vor den Schafställen, obwohl er wusste, dass ihm seine Verspätung Schläge eintragen und die Strafe umso heftiger ausfallen würde, je länger er zögerte. Doch er hatte einfach noch keine Lust, wieder in das vertraute Licht des Elternhauses zu treten.
    Er freute sich an dem leisen Sausen des Nachtwinds und an dem Wissen, dass er der einzige Junge – vielleicht sogar der einzige Mensch – war dort draußen auf der dunklen, froststarren Wiese und in der Nacht, die nach Schnee roch, losgelöst von den erleuchteten Fenstern und den warmen Öfen, ein Teil des Dorfes und doch in diesem Augenblick von ihm abgeschnitten. Es war ein aufregendes, fast erotisches Gefühl – die unerlaubte Entdeckung eines von allen

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