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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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und allem anderen getrennten Selbst –, das ihn auch jetzt wieder erfasst, und nicht zum ersten Mal in den vielen Jahren seines Dienstes an den entgegengesetzten Polen der Erde.
    Irgendetwas kommt den hohen Kamm hinter ihm herab.

    Crozier dreht die Öllaterne auf und stellt sie auf den Boden. Der goldene Lichtkreis reicht kaum fünfzehn Fuß weit und macht die Dunkelheit dahinter nur noch undurchdringlicher. Mit den Zähnen reißt er sich den schweren Fäustling herunter und lässt ihn auf das Eis fallen. Darunter trägt er nur einen dünnen Handschuh.
    Nachdem er die Bootsstake in die linke Hand gewechselt hat, zieht er seinen Revolver aus der Tasche, und als das Rieseln von rutschendem Eis und Schnee auf dem Pressrücken lauter wird, spannt Crozier den Hahn seiner Waffe. Der Schattenumriss des Eisbergs verdeckt das Mondlicht, und der Kapitän kann nur die Formen gewaltiger Eisbrocken erkennen, die sich im Flackern der Lampe träge zu bewegen scheinen.
    Dann huscht etwas Pelziges an dem Eissims entlang, über den er gerade geklettert ist – zehn Fuß über ihm und keine fünfzehn Fuß westlich. Eine Entfernung, die mit einem Sprung leicht zu überwinden ist.
    »Halt.« Crozier streckt den schweren Revolver vor. »Wer ist da?«
    Die Gestalt gibt keinen Laut von sich. Wieder bewegt sie sich.
    Crozier schießt nicht. Stattdessen lässt er die lange Stake fallen und reißt die Laterne hoch.
    Beim Anblick des wogenden Pelzes drückt er beinahe ab, hält aber im letzten Augenblick inne. Mit schnellen und sicheren Bewegungen gleitet die Gestalt hinunter aufs Eis. Crozier lässt den Hahn vorsichtig zurückschnappen und steckt die Waffe zurück in die Tasche. Die Lampe vor sich haltend, bückt er sich nach seinem Fäustling.
    Lady Silence tritt ins Licht. In ihrem Pelzanorak und der Robbenhose wirkt sie wie ein kleines, rundliches Tier. Sie hat die Kapuze tief nach unten gezogen, um sich gegen den Wind zu schützen, und Crozier kann ihr Gesicht nicht erkennen.
    »Himmelherrgott, Weib«, schimpft er leise, »viel hat nicht gefehlt,
und ich hätte dir das Hirn weggeblasen. Wo treibst du dich überhaupt die ganze Zeit herum?«
    Sie kommt näher, fast auf Armreichweite, doch ihr Gesicht ist immer noch im Dunkel der Kapuze verborgen.
    Ein eiskalter Schauer läuft Crozier über den Nacken und das Rückgrat – er denkt daran, wie seine Großmutter Moira ihm das durchscheinende Knochengesicht einer Todesfee in den Falten einer schwarzen Kapuze beschrieben hat. Er reißt die Laterne nach oben.
    Das Gesicht vor ihm ist nicht das einer Todesfee, sondern das einer jungen Frau, in deren großen, dunklen Augen sich das Licht spiegelt. Ihre Züge sind ohne Ausdruck. Crozier wird klar, dass sich in diesem Gesicht noch nie irgendeine Empfindung abgezeichnet hat, höchstens vielleicht ein leicht fragender Blick. Nicht einmal an dem Tag, als ihr Mann oder Bruder oder Vater niedergeschossen wurde und sie mit ansehen musste, wie er sterbend in seinem Blut lag.
    »Kein Wunder, dass dich die Männer für eine Hexe und Unglücksbotin halten.« An Bord, vor den Männern, gibt sich Crozier stets höflich und förmlich der Eskimofrau gegenüber, aber jetzt ist keiner von den Matrosen anwesend. Es ist überhaupt das erste Mal, dass er und diese verdammte Frau sich gemeinsam und ohne Begleitung woanders als auf dem Schiff aufhalten. Außerdem friert ihn, und er ist todmüde.
    Lady Silence starrt ihn an. Dann streckt sie ihre Hand in dem Fäustling aus. Crozier senkt die Lampe und merkt, dass sie ihm etwas hinhält – etwas Graues, Schlaffes, das herunterhängt wie ein Fisch ohne Eingeweide und Gräten.
    Er erkennt den grauen Strumpf eines Seemanns.
    Crozier nimmt ihn entgegen und spürt etwas Klumpiges an der Spitze des Strumpfs. Sofort beschleicht ihn die Ahnung, dass er einen Teil von einem Fuß in der Hand hat, wahrscheinlich den Fußballen samt Zehen, noch immer rosig und warm.

    Crozier war in Frankreich und hat Männer gekannt, die in Indien stationiert waren. Er hat ihre Geschichten über Werwölfe und Wertiger gehört. In Van Diemen’s Land hat Sophia Cracroft ihm von den dort verbreiteten Geschichten über Einheimische erzählt, die sich in ein monströses Geschöpf mit dem Namen tasmanischer Teufel verwandeln und einen Mann in Stücke reißen können.
    Crozier schüttelt den Strumpf sachte und blickt dann Lady Silence in die Augen. Sie sind so schwarz wie die Löcher im Eis, in denen sie ihre Toten bestattet haben, bevor selbst diese

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