Terror
letzten Frühjahr, oben vor der Beechey-Insel, hatten Mannschaft und Offiziere vollerVorfreude beobachtet, wie die Sonne wiederkehrte, wie das feste Packeis in einzelne Schollen und breiige Trümmer zerbrach, wie sich Rinnen auftaten und das Eis seinen Würgegriff lockerte. Ende Mai 1846 konnten sie in See stechen. Doch diesmal war alles anders.
Im vergangenen Frühjahr hatten Mannschaft und Offiziere auch die Rückkehr vieler Vögel, Wale, Fische, Füchse, Robben, Walrosse und anderer Tiere erlebt, ganz zu schweigen vom Ergrünen der Flechten und niedrigen Heidesträucher auf den Inseln, denen sie sich Anfang Juni näherten. Nicht so in diesem Jahr. Fehlendes offenes Wasser bedeutete, dass es auch keine Wale, keine Walrosse und fast keine Robben gab. Die wenigen Ringelrobben, die sie erspähten, waren jetzt genauso schwer zu
erlegen wie im frühen Winter. Ansonsten waren nur schmutziger Schnee und graues Eis zu sehen, so weit das Auge reichte.
Obwohl die Sonne jeden Tag länger schien, blieben die Temperaturen niedrig. Schon Mitte April ließ Franklin auf beiden Schiffen die Stengen und Rahen anbringen, das Tauwerk erneuern und frische Segel aufziehen – eine völlig sinnlose Maßnahme. Die Dampfkessel wurden weiterhin nur benutzt, um warmes Wasser durch die Heizrohre zu pumpen. Die Ausgucksposten meldeten fortgesetzt eine durchgehende weiße Ebene, die sich in alle Richtungen erstreckte. Die Eisberge verharrten dort, wo sie im letzten September festgefroren waren. Zusammen mit Kapitän Crozier von der Terror konnten Fitzjames und Leutnant Gore durch Beobachtung der Sterne feststellen, dass die Strömung das Eis mit einer lächerlichen Geschwindigkeit von eineinhalb Meilen im Monat nach Süden trieb. Aber da die Eismasse, auf der sie eingeschlossen waren, sich den ganzen Winter über im Gegenuhrzeigersinn gedreht hatte, waren sie bloß wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt. Immer noch schossen Pressrücken in die Höhe wie weiße Maulwurfshügel. Das Eis wurde zwar dünner, und die Feuerlochtrupps konnten es inzwischen wieder durchsägen, doch es war immer noch über zehn Fuß stark.
All dies vermochte Kapitän John Franklin nicht in seiner Gelassenheit zu erschüttern. Dafür gab es zwei gute Gründe: seinen Glauben und seine Frau. Seine tiefe Frömmigkeit verlieh ihm Kraft, auch wenn das Gewicht der Verantwortung und der Enttäuschung schwer auf ihm lastete. Alles, was geschah, war Gottes Wille, das war seine tiefste Überzeugung. Was anderen unabänderlich schien, musste nicht so sein in einem Universum, das von einem anteilnehmenden, barmherzigen Gott gelenkt wurde. Vielleicht brach das Eis plötzlich zu Mittsommer auseinander. Bis dahin waren es keine sechs Wochen mehr. Und dann würden schon wenige Wochen unter Segeln und Dampf genügen, um sie
triumphierend durch die Nordwestpassage zu bringen. Sie würden der Küste nach Westen folgen, solange die Kohle noch reichte. Den Rest des Weges bis zum Pazifik konnten sie segeln und so Mitte September die nördlichsten Breitengrade gerade noch rechtzeitig verlassen, bevor das Packeis wieder festfror. Franklin hatte in seinem Leben schon viel Merkwürdigeres erlebt. Allein dass er im Alter von sechzig Jahren und nach den Demütigungen in Van Diemen’s Land zum Befehlshaber dieser Expedition ernannt worden war, konnte als größeres Wunder gelten.
So tief und aufrichtig Sir Johns Glaube an Gott war, der Glaube an seine Gemahlin war sogar noch stärker und manchmal auch erschreckender. Lady Jane Franklin war eine unbezähmbare Frau. Ja, unbezähmbar war das einzig zutreffende Wort für sie. Ihre Entschlossenheit kannte keine Grenzen, und in fast allen Fällen gelang es Lady Jane, die Welt in all ihrer Fehlbarkeit und Willkür ihrem eisernen Willen zu unterwerfen. Bestimmt hatte seine Frau schon, nachdem sie zwei ganze Winter lang nichts von ihm gehört hatte, ihr durchaus ansehnliches Privatvermögen, ihre Verbindungen zu wichtigen Persönlichkeiten und ihre offenkundig unerschöpfliche Willenskraft aufgeboten, um die Admiralität, das Parlament und weiß Gott, welche anderen Instanzen noch, zu einer raschen Suche nach ihm zu bewegen.
In der Tat bereitete dieser Umstand Sir John ein wenig Sorge. Auf keinen Fall wollte er gerettet werden. Die Vorstellung war ihm unerträglich, dass in der kurzen Tauperiode im Sommer entweder über Land oder auf See eine hastig zusammengewürfelte Expedition unter dem Kommando des nach Whiskey riechenden Sir John Ross oder des
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