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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Löcher zufroren.
    In dem Strumpf ist ein Eisbrocken, kein Stück von einem menschlichen Fuß. Aber die Wolle selbst ist nicht hartgefroren und kann deshalb nicht lange hier draußen in fünfzig Grad Kälte gewesen sein. Dies legt den Schluss nahe, dass ihn die Frau vom Schiff mitgebracht hat, doch Crozier hat einen anderen Verdacht.
    »Strong?«, fragt der Kapitän. »Evans?«
    Silence zeigt keine Reaktion auf die Namen.
    Seufzend steckt Crozier den Strumpf in die Manteltasche und hebt die Bootsstake auf. »Zur Erebus ist es von hier näher als zur Terror . Am besten, du kommst einfach mit.«
    Crozier kehrt ihr den Rücken zu und spürt den vertrauten Schauer im Nacken, als er mit knirschenden Schritten auf die mittlerweile erkennbaren Umrisse des Flaggschiffs zusteuert. Kurz darauf hört er hinter sich ihre leisen Schritte auf dem Eis.
    Sie klettern über einen letzten Eishügel, und vor ihnen erstrahlt die Erebus so hell, wie er es noch nie erlebt hat. Allein auf der sichtbaren Backbordseite des vom Eis bedrängten und absurd krängenden Schiffs hängen ein Dutzend und mehr Laternen an Spieren. Was für eine ungeheure Verschwendung von Öl!
    Crozier ist sich bewusst, dass die Erebus mehr gelitten hat als die Terror . Neben der defekten Antriebswelle – normalerweise ist
sie zwar einfahrbar, hat sich jedoch beim Eisbrechen im Juli 1846 nicht schnell genug zurückgezogen und wurde vom Unterwassereis verbogen – und der verlorenen Schiffsschraube wurde dem Flaggschiff in den vergangenen zwei Wintern auch sonst übel mitgespielt. Schon an dem vergleichsweise geschützten Ankerplatz vor der Beechey-Insel hat das Eis die Rumpfplanken der Erebus stärker verkrümmt, gelöst und zersplittert als die der Terror . Bei dem überstürzten Sturm auf die Nordwestpassage im vorletzten Sommer wurde außerdem das Ruder des Flaggschiffs beschädigt; durch die Kälte sind mehr Schrauben, Nieten und Metallkrampen zerbrochen, und viel mehr von der eisernen Eisbrecherpanzerung am Rumpf der Erebus ist abgerissen oder völlig zerbeult. Und wenn das Eis schon die Terror hochgeschoben und zusammengepresst hat, so wurde die Erebus praktisch auf ein Podest gehoben, während das Packeis einen großen Teil des Steuerbordbugs, Backbordhecks und mittleren Rumpfs eingedrückt hat.
    Sir John Franklins Flaggschiff wird nie wieder segeln. Das wissen ihr gegenwärtiger Kapitän James Fitzjames und seine Mannschaft ebenso gut wie Crozier.
    Ehe er in den von den Schiffslaternen ausgeleuchteten Bereich tritt, schlüpft Crozier hinter einen zehn Fuß hohen Eiszacken und zieht Silence zu sich heran.
    »Schiff ahoi!«, donnert er in seinem lautesten Kommandoton.
    Ein Flintenschuss knallt, und fünf Fuß von Crozier entfernt zersplittert eine Eissäule in einem Regen aus Kristallen, in denen sich das schwache Licht fängt.
    »Halt! Der Blitz soll dich treffen, du gottverdammter, blinder, hirnloser Hornochse!«, brüllt Crozier.
    An Bord der Erebus bewegt sich etwas; ein Offizier entwindet dem angesprochenen Hornochsen die Waffe.
    Crozier wendet sich an das geduckte Eskimomädchen. »In Ordnung, jetzt können wir gehen.«

    Er bleibt stehen, aber nicht nur, weil ihm Lady Silence nicht ins Licht folgt. Im schwachen Glanz der Laternen sieht er ihr lächelndes Gesicht. Die vollen Lippen, die sich nie bewegen, haben sich leicht gekräuselt. Ein Lächeln. Als hätte sie seinen Ausbruch verstanden und sich darüber amüsiert.
    Noch bevor sich Crozier sicher sein kann, dass das Lächeln echt ist, weicht Silence in die Schatten der Eiswüste zurück und ist verschwunden.
    Crozier schüttelt den Kopf. Wenn das verrückte Weibsbild unbedingt hier draußen erfrieren will, soll sie doch. Er hat ein wichtiges Gespräch mit Commander Fitzjames und danach noch einen langen Heimweg durch die Dunkelheit vor sich, ehe er endlich schlafen kann.
    Trotz seiner Müdigkeit erkennt Crozier, dass er schon seit mindestens einer halben Stunde seine Füße nicht mehr spürt. Er stapft die Rampe aus schmutzigem Eis und Schnee hinauf zum Deck von Sir Johns zerschmettertem Flaggschiff.

9
Franklin
    70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
3. JUNI 1847
     
     
     
    K apitän Sir John Franklin war wohl der einzige Mann auf beiden Schiffen, der äußerlich gelassen blieb, als der Frühling und der Sommer im April, Mai und Juni 1847 einfach ausblieben.
    Sir John gab auch nicht offiziell bekannt, dass sie mindestens ein weiteres Jahr festsaßen; das war nicht nötig. Im

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