Terror
vielleicht auch dem Gefreiten Reed. War das nicht
Billy Reed, der rothaarige Seesoldat, der immer über diesen Schriftsteller reden wollte – Dickens?«
»William Reed, ja. Er hat fast immer gewonnen, als die Männer vor zwei Jahren auf der Disko-Insel Wettläufe gemacht haben. Ich dachte, wenn ich einen Mann schicke, der sehr schnell rennen …« Er verstummt und beißt sich auf die Lippe. »Ich hätte bis zum Morgen warten sollen.«
»Wozu?« Crozier winkt ab. »Da ist es auch nicht heller. Nicht einmal mittags wird es richtig hell. Ob Tag oder Nacht, das hat zurzeit gar keine Bedeutung und wird es in den nächsten vier Monaten auch nicht haben. Außerdem ist es ja nicht so, als ob diese verdammte Bestie da draußen nur nachts oder im Dunkeln jagt. Vielleicht taucht Reed wieder auf. Wäre nicht das erste Mal, dass sich einer unserer Boten auf dem Eis verirrt und dann nach fünf oder sechs Stunden frierend und fluchend zurückkommt.«
»Ja, vielleicht.« Zweifel liegt in Fitzjames’ Stimme. »Auf jeden Fall schicke ich am Morgen Suchtrupps raus.«
»Genau darauf wartet dieses Ungeheuer doch.« Crozier klingt auf einmal sehr müde.
»Mag sein. Aber du hast mir doch auch gerade erzählt, dass du heute den ganzen Tag und noch am Abend immer wieder Leute aufs Eis geschickt hast, um nach Strong und Evans zu forschen.«
»Wenn ich Evans nicht mitgenommen hätte, weil ich nach Strong suchen wollte, wäre der Junge noch am Leben.«
»Thomas Evans«, bemerkt Fitzjames, »an den erinnere ich mich noch gut. Großer Kerl. Der war doch eigentlich kein Junge mehr, oder? Der muss bestimmt mindestens zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sein … gewesen sein.«
»Tommy ist im Mai zwanzig geworden«, erwidert Crozier. »Sein erster Geburtstag an Bord war am Tag nach unserer Abreise. Die Männer waren in guter Stimmung und haben seinen achtzehnten Geburtstag damit begangen, dass sie ihm den Schädel
kahlrasiert haben. Aber ihm hat das anscheinend nichts ausgemacht. Alle, die ihn kannten, sagen, dass er für sein Alter schon immer sehr groß war. Er hat auf der HMS Lynx gedient und davor schon auf einem Ostindienfahrer. Er ist mit dreizehn zur See gegangen.«
»So wie du, richtig?«
Crozier lacht ein wenig kleinlaut. »So wie ich. Auch wenn es mir nicht unbedingt viel genützt hat.«
Fitzjames schließt den Weinbrand zurück in den Schrank und setzt sich wieder an den langen Tisch. »Sag mal, Francis, stimmt das eigentlich, dass du dich damals – wann war das, 24? – als schwarzer Lakai verkleidet hast, zusammen mit dem alten Hoppner, der als Edelfrau maskiert war?«
Croziers Lachen klingt entspannter. »Ja, das ist wahr. Ich war Seekadett auf der Hecla mit Parry, der 24 mit Hoppners Fury nach Norden gesegelt ist. Schon damals wollten sie diese verdammte Nordwestpassage entdecken. Parry hatte den Plan, mit den zwei Schiffen durch den Lancaster-Sund und dann weiter durch den Prince Regent Inlet zu fahren. Damals wussten wir noch nicht, dass Boothia eine Halbinsel ist. Das haben erst John und James Ross 33 herausgefunden. Parry dachte, dass er Boothia südlich umschiffen und weitersegeln kann, dass er nur so dahinsausen wird, bis er die Küste erreicht, die Franklin vom Land aus sechs, sieben Jahre vorher erforscht hatte. Aber Parry ist zu spät in See gestochen. Warum müssen diese verfluchten Expeditionskommandanten eigentlich immer zu spät ablegen? Wir konnten von Glück sagen, dass wir bis zum 10. September überhaupt den Lancaster-Sund erreicht hatten. Schon am 13. September hat uns dann das Eis zugesetzt, und wir hatten keine Möglichkeit mehr, durch den Sund zu kommen. Also haben sich Parry auf der Hecla und Leutnant Hoppner auf der Fury mit eingezogenem Schwanz nach Süden davongemacht. Ein Sturm hat uns dann in die Baffin-Bucht zurückgetrieben, und wir waren
wirklich vom Glück begünstigt, dass wir einen Ankerplatz in der hübschen kleinen Bucht in der Nähe des Prince Regent Inlet fanden. Da haben wir dann zehn Monate lang gehockt und uns den Arsch abgefroren.«
Fitzjames deutet ein Lächeln an. »Aber du als schwarzer Diener?«
Crozier nickt und nimmt einen Schluck. »Parry und Hoppner waren beide ganz versessen darauf, im Winter auf dem Eis Kostümbälle zu geben. Hoppner hat sich die Maskerade ausgedacht – das Ganze trug den Namen Großer Venezianischer Karneval –, und zwar für den ersten November, wenn die Stimmung auf dem Tiefpunkt ist, weil die Sonne an dem Tag für Monate verschwindet.
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