Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
beide Hände auf den roth gefärbten Verband über der Wunde drückte, um den beständigen Blutfluß aus der Lunge des Wilden zu hemmen, wenn er ihm schon nicht Einhalt gebiethen konnte, nickte in die Richtung des Vorhangs vor dem Alcoven. »Dr. MacDonald ist bei ihr, Sir John.«
    Ohne ein weiteres Wort schob Sir John die Decke beiseite und betrat das Gelaß. Unmittelbar darauf vernahm ich ein erschrockenes, unzusammenhängendes Stammeln, dann kam der Leiter unserer Expedition rückwärts und mit hochrothem Gesichte wieder hervor. Ich muß gestehen, daß ich Angst hatte, unser einundsechzigjähriger Commandant könnte einen Schlaganfall erlitten haben.
    Endlich wich mit einem Male alle Farbe aus Sir Johns Antlitz.
    Erst später fiel mir ein, daß die junge Frau wahrscheinlich nackt war. Einige Minuten vorher war ich bei einem zufälligen Blicke durch den nicht
gänzlich geschlossenen Vorhang Zeuge geworden, wie MacDonald ihr mit Gesten bedeutete, sie möge sich ihrer äußeren Gewandung entledigen, welche aus einem Bärenfellanorak bestand. Bereitwillig streifte das Mädchen das schwere Kleidungsstück ab, und darunter kam ihr entblößter Oberkörper zum Vorschein. Wiewohl mein ganzes Augenmerk zu diesem Zeitpuncte dem Sterbenden auf dem Tische galt, streifte mich doch flüchtig der Gedanke, daß der schwere Pelz auf bloßer Haut eine sehr vernünftige Methode sey, um sich warm zu halten; viel vernünftiger als die vielen Schichten Wolle, die wir alle bei der Erkundungsfahrt des unglücklichen Leutnant Gore getragen hatten. Nackt unter Thierhaar vermag sich der Körper zu erwärmen, wenn ihn Kälte bedrängt, aber er findet auch ausreichende Kühlung, wenn dies nöthig ist, wie etwa bei anstrengender Thätigkeit, da der ausgeschiedene Schweiß von den Haaren des Wolfs- oder Bärenpelzes rasch aufgesogen wird. Dagegen war die Wolle, die wir Engländer getragen hatten, im Nu vom Schweiße getränkt, wurde nie gänzlich trocken, gefror umgehend, wenn wir nicht mehr marschirten oder den Schlitten zogen, und verlor solchermaaßen einen großen Theil ihrer schützenden Eigenschaften. Ich hege keinen Zweifel daran, daß wir bei unserer Rückkehr zum Schiff doppelt soviel Gewicht auf dem Buckel trugen wie bei unserem Aufbruch.
    »Ich k-komme bei passenderer Gelegenheit wieder.« Mit diesen Worten zog sich Sir John eilends zurück.
    Capitain Franklin wirkte erschüttert, aber ob dies der vernünftigen paradiesischen Nacktheit des Mädchens oder irgendeinem anderen Anblicke in dem Lazarettalcoven zuzurechnen sey, ist mir nicht bekannt. Er verließ die Operationskammer ohne ein weiteres Wort.
    Kurz darauf rief mich MacDonald in den Alcoven. Das Mädchen – welche vielmehr eine junge Frau zu nennen ist, wiewohl die Wissenschaft erwiesen hat, daß die weiblichen Angehörigen wilder Volksstämme die Pubertät viel früher erlangen als die jungen Damen civilisirter Gesellschaften  – hatte ihren weiten Anorak und die Robbenfellhosen wieder angezogen. Auch Dr. MacDonald machte einen erregten, fast bestürzten Eindruck auf mich. Nach der Ursache seiner Unruhe befragt, bedeutete er dem Eskimoweibe,
den Mund zu öffnen. Alsdann hob er eine Lampe und einen convexen Spiegel hoch, um das Licht zu einem Strahle zu bündeln, und ich that einen Blick.
    Ihre Zunge war nahe der Wurzel amputirt worden. Meiner Auffassung nach, in welcher mir auch Dr. MacDonald beipflichtete, war der Stummel gerade lang genug, daß sie noch einigermaaßen schlucken und die meisten Speisen verzehren konnte. Indeß überstieg die Articulation complicirter Laute, sofern man die Eskimosprache überhaupt complicirt nennen kann, gewiß ihre Fähigkeiten. Die Narbe war bereits alt. Was immer geschehen war, es lag schon lange zurück.
    Ich gestehe, daß ich entsetzt zurückfuhr. Wer konnte sich derart an einem Kinde vergehen – und aus welchem Grunde? Freilich, als ich das Wort »Amputation« gebrauchte, schüttelte Dr. MacDonald den Kopf.
    »Sehen Sie es sich noch einmal an, Dr. Goodsir.« Seine Stimme war nur noch ein Wispern. »Es ist kein sauberer, runder Schnitt, wie ihn ein Chirurgus ausführen würde, und auch nicht der grobe Schnitt eines Steinmessers. Dem armen Mädchen wurde die Zunge abgebissen , als sie noch sehr klein war, und sie kann es auch nicht selbst gethan haben, dazu ist der Biß zu nahe an der Wurzel des Organs.«
    Nachdem ich mich von der Richtigkeit seiner Worte überzeugt hatte, trat ich einen Schritt zurück. »Ist sie noch anderweitig

Weitere Kostenlose Bücher