Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
wollte nicht aufhören, uns aus seinen, für einen Eskimo, verstörend hellen Augen anzustarren und jede unserer Bewegungen aufs genaueste zu beobachten.
    Kurz darauf traf Dr. MacDonald von der Terror ein und brachte, auf Stanleys Ansuchen hin, den zweyten Eskimo – das Mädchen – zur Untersuchung in den hinteren, mit einer Decke verhängten Alcoven des Lazaretts. Allerdings dünkte mich, daß meinem Collegen Stanley weniger an einer Untersuchung des Mädchens gelegen war als vielmehr daran, sie aus der Kammer zu entfernen, solange unsere blutige Untersuchung der Wunden ihres Gatten oder Vaters in vollem Gange war. Gleichwohl schienen weder der Patient noch das Mädchen sonderlich erschrocken über das Blut oder die Wunde, welche gewiß genügt hätten, eine Londoner Dame – und selbst so manchen Medicus in der Ausbildung – ohnmächtig zu Boden sinken zu lassen.
    Als Stanley und ich soeben unsere Untersuchung des sterbenden Eskimos geendigt hatten, trat Capitain Sir John mit zwey Matrosen ein,
welche Charles Best trugen und stützten. Selbigem, so wurden wir unterrichtet, waren in Sir Johns Kajüte die Sinne geschwunden. Wir leiteten die Männer an, Best vorsichtig auf die nächste Pritsche zu legen. Allein der flüchtige Augenschein genügte mir, um die Gründe für die Ohnmacht des Mannes festzustellen: äußerste Erschöpfung, von welcher alle Theilnehmer an Leutnant Gores Erkundungsfahrt nach zehn Tagen unvorstellbarer Mühen gezeichnet waren; Hunger, da wir in den zwey letzten Tagen und Nächten auf dem Eise außer rohem Bärenfleisch nichts zu uns genommen hatten; Austrocknung der Leibesfeuchtigkeit, die darin ihre Ursache hatte, daß wir, in Ermangelung aller Gelegenheit, anzuhalten und vermittels der Spirituskocher Schnee zu schmelzen, selbigen Schnee sowie auch Eis in den Mund nahmen, um daran zu lecken, welcher Vorgang dem Leibe mehr Wasser raubt, als er ihm spendet; und zuletzt ein Grund, welcher mir ohne weiteres offenbar war, den Officieren jedoch, die Best befragt hatten, sonderbarer Weise verborgen geblieben war: Der arme Matrose hatte seinen Bericht vor den Capitainen nicht nur im Stehen ablegen müssen, sondern auch mit sieben seiner urspünglich acht Kleiderschichten, da man ihm nur die Zeit bewilligt hatte, sich seines blutbesudelten Überziehers zu entledigen. Nach zehn Tagen und Nächten auf dem Eise und bei einer durchschnittlichen Temperatur von minus siebzehn Grad empfand auch ich die Wärme an Bord der Erebus als lähmend und erstickend, obgleich ich vor dem Betreten des Lazaretts bis auf zwey alle Wollschichten abgelegt hatte. So kann es kaum verwundern, daß Best zusammenbrach.
    Nachdem er Gewißheit erlangt hatte, daß sich Best bald erholen würde  – eine Dosis Riechsalz hatte den Matrosen schon fast wieder zu sich gebracht –, betrachtete Sir John mit sichtbarem Abscheu unseren Eskimopatienten, welcher gerade auf der blutigen Brust lag, da Stanley und ich in seinem Rücken nach der Kugel gesucht hatten.
    Schließlich fragte unser Commandant: »Wird er überleben?«
    »Nicht mehr lange, Sir John«, entgegnete Stephen Samuel Stanley.
    Diese Worte, so unverhohlen vor dem Patienten gesprochen, ließen mich zusammenfahren. Gewöhnlich befleißigen wir Ärzte uns der lateinischen Sprache und eines gleichmüthigen Tones, wenn wir im Beiseyn Todtkranker
schlimme Diagnosen zu stellen haben. Sogleich fiel mir jedoch ein, daß der Eskimo wohl kaum unserer Sprache mächtig war.
    »Drehen Sie ihn auf den Rücken«, befahl Sir John.
    Mit äußerster Behutsamkeit folgten wir der Anweisung. Der weißhaarige Eingeborene, welcher während all unserer Untersuchungen bei Bewußtseyn geblieben war und auch jetzt gewiß schwerste Qualen litt, gab nicht den geringsten Laut von sich. Sein Blick ruhte auf dem Gesicht unseres Expeditionsführers.
    Über ihn gebeugt, rief Sir John mit langsamer und erhobener Stimme, als hätte er es mit einem tauben Kinde oder einem Schwachsinnigen zu thun: »Wer … bist … du?«
    Der Eskimo sah zu Sir John auf.
    »Was … dein … Name?«, setzte Sir John mit gleicher Stimmgewalt hinzu. »Was … dein … Stamm?«
    Der Sterbende blieb gänzlich reglos.
    Mit angewiderter Miene schüttelte Sir John den Kopf. Freilich vermag ich nicht zu sagen, ob dies wegen der klaffenden Wunde in der Brust des Eskimos geschah oder wegen seiner scheinbaren Verstocktheit.
    Sir John wandte sich an Stanley. »Wo ist die andere Eingeborene?«
    Mein Vorgesetzter, welcher gerade

Weitere Kostenlose Bücher