Terror
von dort oben herab wie die eisigen Ausdünstungen eines längst toten Wesens, das trotzdem noch um Atem ringt.
Gegenüber von Croziers Pult stand ein schmales Gestell für seine Waschschüssel. Sie enthielt natürlich kein Wasser, da es in kürzester Zeit gefroren wäre. Der Steward Jopson brachte seinem Kapitän jeden Morgen heißes Wasser vom Herd. Der Raum zwischen Waschschüssel und Pult reichte gerade aus, damit Crozier stehen oder, wie jetzt, auf einem Hocker sitzen konnte, der seinen Platz unter dem Waschgestell hatte, wenn er nicht benötigt wurde.
Noch immer starrte er auf den Revolver und die Flasche Whiskey.
Der Kapitän der HMS Terror hatte sich schon oft überlegt, dass er nichts über die Zukunft wusste, außer dass sein Schiff und die Erebus nie wieder unter Dampf oder Segeln fahren würden. Aber dann fiel ihm doch noch ein Punkt ein, in dem er Gewissheit hatte: Wenn sein Whiskeyvorrat aufgebraucht war, würde sich Francis Rawdon Moira Crozier eine Kugel durch den Kopf jagen.
Der verstorbene Sir John Franklin hatte seine Vorratskammer mit vielen Dingen gefüllt: mit kostbarem Porzellan, das durchweg seine Initialen und sein Familienwappen trug, mit geschliffenen Kristallgläsern, achtundvierzig Rinderzungen, Silbergeschirr, das gleichfalls mit seinem Wappen verziert war, mit ganzen Fässern voller westfälischem Räucherschinken, Türmen von Gloucestershire-Käse, zahllosen Beuteln von eigens importiertem Tee aus der Plantage eines Verwandten in Darjeeling und vielen Gläsern seiner Lieblingssorte Himbeermarmelade.
Auch Crozier hatte einige besondere Speisen für das eine oder andere Offiziersdiner eingelagert, das er ausrichten musste, doch den größten Teil seines Geldes und des ihm zustehenden Lastplatzes hatte er für dreihundertvierundzwanzig Flaschen Whiskey reserviert. Es war kein erlesener schottischer, aber das war ihm gleichgültig. Crozier wusste, dass er als Trinker schon längst die Schwelle überschritten hatte, ab der die Quantität stets die Oberhand über die Qualität behielt. Zu manchen Zeiten, wie etwa im Sommer, als er sehr beschäftigt war, reichte ihm eine Flasche zwei Wochen und länger. Dann wieder, wie in der vergangenen Woche, leerte er eine Flasche pro Nacht. Nachdem er im vorigen Winter die zweihundertste Flasche geköpft hatte, hatte er aufgehört mitzuzählen. Aber er ahnte, dass sein Vorrat bald zur Neige ging. Sobald er die allerletzte Flasche getrunken und von seinem Steward gehört hatte, dass nichts mehr da war – es würde irgendwann nachts passieren, das wusste er –, wollte er den Hahn des Revolvers spannen, sich den Lauf an die Schläfe setzen und abdrücken.
Ein praktisch denkender Kapitän hätte sich vielleicht einfach an die nicht unwesentlichen, aber doch allmählich schwindenden Bestände unten in der Spirituslast gehalten: knapp vierhundert Gallonen konzentrierter westindischer Rum in Fässern mit einer Stärke zwischen fünfundsechzig und siebzig Prozent. Die tägliche Rumzuteilung an die Männer war streng reguliert:
eine Viertelpinte auf drei Viertelpinten Wasser. Noch gab es genug Gallonen und Pinten, um darin zu schwimmen. Ein weniger zimperlicher und etwas gierigerer Kapitän hätte den Rum der Seeleute vielleicht als seinen persönlichen Vorrat betrachtet. Aber Francis Crozier mochte keinen Rum. Er hatte ihn noch nie gemocht. Sein Getränk war Whiskey, und wenn es damit vorbei war, war es auch mit ihm vorbei.
Der Anblick der an der Hüfte abgetrennten Leiche von Tommy Evans, dessen bekleidete Beine fast drollig abstanden und dessen Stiefel über den toten Füßen noch immer fest geschnürt waren, hatte Crozier an den Tag erinnert, als er zu der zerstörten Bärenfalle eine Viertelmeile vor der Erebus gerufen worden war. Ihm wurde bewusst, dass dieses Debakel vom 11. Juni in weniger als vierundzwanzig Stunden genau fünf Monate zurücklag. Zuerst hatten Crozier und die anderen Offiziere, die hinzugeeilt waren, nicht so recht verstanden, was die Verwüstung der Falle zu bedeuten hatte. Das Zelt war völlig zerfetzt und sogar die Eisenstangen waren verbogen und zerbrochen worden. Die Sitzplanke lag in Trümmern, und zwischen den Trümmern ruhte der kopflose Körper von Sergeant Bryant, dem ranghöchsten Seesoldaten der Expedition. Sein Kopf, der bei Croziers Eintreffen noch nicht geborgen worden war, war fast fünfzehn Faden weit über das Eis geschleudert worden und neben dem Kadaver eines gehäuteten Bärenjungen liegen
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