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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Eis. Er zwang sein Herz und seine Gliedmaßen zu Ruhe und Disziplin, um mit der Nase die winzigen Luftblasen zwischen dem Eis und dem bitterkalten Wasser zu finden. Er atmete. Mit erhobenem Kinn spuckte er Seewasser aus und sog durch den Mund die Luft ein.
    Ich danke dir, o Herr im Himmel …
    Sir John unterdrückte den Drang zu schreien und kroch an der Unterseite des Eises entlang, als würde er eine Felswand erklimmen. Der Boden des Packeises war hier sehr unregelmäßig  – manchmal reichte er bis zum Wasser hinab und ließ ihm nicht den geringsten Spalt zum Atmen, manchmal wich er fünf oder sechs Zollbreit zurück, so dass er fast das ganze Gesicht aus dem Wasser heben konnte.
    Trotz der fünfzehn Fuß dicken Eisschicht konnte er jetzt einen trüben blauen Schimmer erkennen, der nur wenige Zoll vor seinen Augen von den Kristallfacetten gebrochen wurde. Schwaches Tageslicht fiel durch den Bestattungskrater, in den er soeben geschleudert worden war.
    Und so, meine Damen, meine liebste Jane, musste ich nur den Weg zurück zu dem engen Loch im Eis einschlagen – mich sozusagen ausrichten  –, wobei ich wusste, dass mir nur noch wenige Minuten blieben …
    Nicht Minuten, sondern Sekunden. Sir John spürte, wie die Kälte alles Leben in ihm erstarren ließ. Und irgendetwas stimmte nicht mit seinen Beinen. Nicht nur, dass er sie nicht fühlen konnte, nein, er fühlte sogar eine absolute Abwesenheit an ihrer Stelle. Und das Seewasser schmeckte nach seinem Blut.
    Und dann, meine Damen, zeigte mir Gott, der Allmächtige, das Licht …

    Links. Die Öffnung war nur fünf Faden links von ihm. Hier hing das Eis so hoch über dem schwarzen Wasser, dass sich Sir John ein wenig aufrichten und den kahlen, kalten Schädel an die raue Oberfläche drücken konnte, um tief einzuatmen, sich Wasser und Blut aus den Augen zu blinzeln und tatsächlich das Licht seines Heilands zu erblicken, das schon in greifbarer Nähe war …
    Da schob sich etwas Riesiges und Nasses zwischen ihn und das Licht. Plötzlich herrschte absolute Finsternis. Nicht mehr Atemluft erfüllte den Spalt, sondern ein fauliger Brodem, der ihm ins Gesicht schlug.
    »Bitte …« Hustend und stammelnd verstummte Sir John.
    Dann überwältigte ihn der feuchte Gestank, und riesige Zähne, die sich knapp vor den Ohren um sein Gesicht schlossen, zermalmten seinen Schädelknochen.

16
Crozier
    70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
10. NOVEMBER 1847
     
     
     
    E s war fünf Glasen der Mittelwache. Nach seiner Rückkehr von der Erebus hatte Kapitän Crozier die Leichen – oder vielmehr die halben Leichen – von William Strong und Thomas Evans in Augenschein genommen, so wie sie das Wesen aus dem Eis an das achterliche Schanzkleid gelehnt hatte, und dafür Sorge getragen, dass sie nach unten in die Totenkammer gebracht wurden. Jetzt saß er in seiner Kajüte und betrachtete die beiden Gegenstände auf seinem Pult: eine unangebrochene Flasche Whiskey und einen Revolver.
    Fast die Hälfte von Croziers winziger Kajüte wurde von der eingebauten Koje an der Steuerbordwand eingenommen. Mit den geschnitzten, hohen Seitenteilen, dem eingearbeiteten Schrank darunter und der fast auf Brusthöhe liegenden schweren Rosshaarmatratze erinnerte sie an eine Kinderwiege. In richtigen Betten hatte Crozier nie gut geschlafen und sich oft nach den schwingenden Hängematten zurückgesehnt, in denen er als Schiffsjunge vor dem Mast und auch danach als Seekadett und junger Offizier viele Jahre verbracht hatte. Seine unmittelbar am Schiffsrumpf liegende Koje war einer der kältesten Schlafplätze auf dem gesamten Schiff – bestimmt ungemütlicher als die Kojen
der Deckoffiziere mittschiffs und viel kälter als die Hängematten im Mannschaftslogis, die nahe bei dem fast ständig glühenden Herd aufgespannt waren, an dem Mr. Diggle zwanzig Stunden am Tag kochte und backte.
    Die Bücher in den eingebauten Regalen an der nach innen geneigten Wand trugen ein wenig zur Dämmung von Croziers Schlafstelle bei, aber nicht viel. Unter der Decke verlief über die fünf Fuß Breite der Kajüte ein weiteres Regal mit Büchern, das unter gebogenen Schiffsplanken drei Fuß über Croziers ausklappbarem Schreibtisch hing. Dieser verband seine Koje mit dem Schott zum Kajütgang. Von dem Scheilicht direkt über ihm war nur ein schwarzer Kreis zu sehen, da das konvexe Glas wie das gesamte Deck unter drei Fuß Schnee und der schützenden Plane lag. Ein stetiger kalter Luftzug drang

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