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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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geblieben.
    Leutnant Le Vesconte hatte sich den Arm gebrochen, aber wie sich herausstellte, hatte er sich diese Verletzung nicht bei einer Attacke des Bärenungeheuers zugezogen, sondern bei einem Sturz aufs Eis. Der Gefreite William Pilkington hatte von seinem Banknachbarn, dem Seesoldaten Robert Hopcraft, einen Schuss durch die obere linke Schulter abbekommen. Hopcraft wiederum hatte nach einem Streifhieb – so seine Beschreibung – von der riesigen Pranke des Ungeheuers acht gebrochene Rippen, ein zerschmettertes Schlüsselbein und einen ausgekugelten Arm
zu beklagen. Die Gefreiten Healey und Reed hatten ohne ernste Verletzungen, aber mit dem Makel überlebt, dass sie in panischer Angst davongerannt und schreiend auf allen vieren über das Eis geschlittert waren. Reed hatte sich bei seiner Flucht drei Finger gebrochen.
    Doch vor allem Sir John Franklins Hosenbeine und Schnallenstiefel, in denen die ansonsten unversehrten, aber unterhalb des Knies abgetrennten Waden und Füße steckten – das eine fand man in der Falle, das andere war in der Nähe des Bestattungskraters gelandet –, zogen Francis Croziers Aufmerksamkeit auf sich.
    Welche heimtückische Intelligenz, so überlegte er, während er von seinem Whiskey trank, riss einem Mann die Beine an den Knien ab, schleppte dann die noch lebende Beute zu einem Loch im Eis und schleuderte sie dort hinein, um ihr kurz darauf zu folgen? Crozier hatte jeden Gedanken daran vermieden, was als Nächstes unter dem Eis geschehen war, doch in manchen Nächten, wenn er nach mehreren Gläsern versucht hatte einzuschlafen, hatte ihn das Grauen doch noch eingeholt. Außerdem stand für ihn inzwischen fest, dass Leutnant Gores Beisetzung, die auf die Stunde genau eine Woche vor dem Gemetzel in der Falle stattgefunden hatte, nichts weiter gewesen war als ein aufwendiges Bankett für das unter dem Eis lauernde Geschöpf.
    Leutnant Gores Tod hatte Crozier eigentlich nicht allzu sehr erschüttert. Gore war ein wohlerzogener, gebildeter, elitärer, anglikanischer Kriegsheld und Offizier der Royal Navy, dem das Befehlen leichtfiel; entspannt im Umgang mit Vorgesetzten und Untergebenen, in allem bescheiden, aber zu Großem berufen, freundlich sogar zu Iren – genau die Art von feinem Oberschichtpinkel, die bei Beförderungen schon seit vierzig Jahren den Vorzug vor Francis Crozier erhalten hatte.
    Er genehmigte sich noch einen Schluck.
    Welche heimtückische Intelligenz tötete in einem Winter, in dem es kein Wild gab, ihre Beute, ohne sie zu fressen, und schleifte
den Oberkörper des Matrosen William Strong und die Beine des jungen Tom Evans zurück? Evans war einer der Schiffsjungen gewesen, die fünf Monate zuvor bei Gores Bestattung die abgedämpfte Trommel gerührt hatten. Was für ein Geschöpf riss den jungen Mann in der Dunkelheit von Croziers Seite, während der Kapitän unbehelligt danebenstand … um dann die halbe Leiche zurückzubringen?
    Die Männer wussten es. Und Crozier teilte ihr Wissen. Das da draußen auf dem Eis war kein zu groß geratener Polarbär. Es war der Teufel.
    Kapitän Francis Crozier konnte der Auffassung der Seeleute nicht widersprechen – auch wenn er beim Weinbrand mit Fitzjames vor einigen Stunden noch ganz anders geredet hatte. Aber er wusste etwas, was die Männer nicht wussten: Der Teufel, der sie hier oben in seinem Reich umbringen wollte, war nicht nur das Wesen mit dem weißen Pelz, das sie einen nach dem anderen abschlachtete, sondern alles hier – die gnadenlose Kälte, das drängende Eis, die elektrischen Stürme, das unheimliche Ausbleiben sämtlicher Robben, Wale, Vögel, Walrosse und Landtiere, das unaufhaltsame Vorrücken des Packeises, die weißen Berge, die sich ihren Weg durch die gefrorene See bahnten, ohne auch nur eine Schiffslänge offenes Wasser hinter sich herzuziehen, die plötzlichen erdbebenartigen Eruptionen der Pressrücken, die tanzenden Sterne, die schlampig verlöteten Lebensmittelbüchsen, die sich in Gift verwandelt hatten, die Sommer, die nicht kamen, die Fahrrinnen, die verschlossen blieben – einfach alles . Das Ungeheuer aus dem Eis war lediglich eine weitere Erscheinungsform eines Teufels, der auf ihren Tod sann. Und der sie leiden sehen wollte.
    Crozier trank.
    Die Beweggründe der Arktis verstand er besser als seine eigenen. Die alten Griechen hatten recht gehabt mit ihrer Anschauung, dass es auf der Erdscheibe fünf Klimagürtel gab. Vier von
ihnen zogen sich gleich groß, einander entgegengesetzt

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