Terror
Rundgang an Bord fand am zweiten Tag ihres Besuchs statt. Die Expeditionsschiffe waren sauber, neu ausgerüstet und hatten reichlich Proviant geladen; die Mannschaften waren noch jung und hatten die Entbehrungen von zwei Wintern in der Antarktis noch vor sich. Während Kapitän Ross persönlich die Führung von Gouverneur Franklin und Lady Jane übernahm, fiel es Crozier zu, die Nichte des Gouverneurs zu begleiten, die dunkelhaarige, helläugige junge Sophia Cracroft. An diesem Tag verliebte er sich in sie, und diese aufkeimende Liebe nahm er mit sich in die Dunkelheit der nächsten zwei Winter am Südpol, wo sie zu einer Obsession erblühte.
Die langen Diners im Haus des Gouverneurs, bei denen ihnen die Diener Luft zufächelten, waren erfüllt von lebhaften Unterhaltungen. Gouverneur Franklin war ein erschöpft wirkender Mann Mitte fünfzig, entmutigt von der fehlenden Anerkennung für seine Leistungen und noch stärker entmutigt vom Widerstand der örtlichen Presse, der reichen Landbesitzer und der Bürokraten in seinem dritten Jahr in Van Diemen’s Land. Doch sowohl er als auch seine Gemahlin Lady Jane erwachten während des Besuchs ihrer Landsleute von der Royal Navy zu neuem Leben, und Sir John bereitete es sichtlich Freude, die Gäste als seine »Forscherkollegen« anzureden.
Sophia Cracroft dagegen war von Niedergeschlagenheit nichts anzumerken. Sie wirkte geistreich, lebendig und manchmal sogar schockierend in der Kühnheit ihres Benehmens und ihrer Bemerkungen – mehr noch als ihre umstrittene Tante Lady Jane. Sie war jung, schön und offensichtlich höchst interessiert an allem, was die Meinungen, das Leben und die Gedankenwelt des vierundvierzigjährigen ledigen Commanders Francis Crozier betraf. Sie lachte über sämtliche von Crozier zunächst nur zögernd vorgebrachten Scherze, und er, der sich gewöhnlich nicht in solchen Gesellschaftskreisen bewegte, bemühte sich um tadellose Manieren, trank weniger als seit Jahren und zudem nur Wein. Sie verstand es, ihn mit geistreichen Antworten auf seine zaghaften Bonmots immer mehr aus der Reserve zu locken. Für Crozier war es, als würde er von einem weit überlegenen Spieler Tennis lernen. Am achten und letzten Tag ihres Besuchs schließlich fühlte sich Crozier jedem Engländer ebenbürtig – ein Gentleman irischer Herkunft, gewiss, aber einer, der seinen Weg gegangen war und ein interessantes, aufregendes Leben geführt hatte, ein Mann, der sich vor keinem anderen zu verstecken brauchte, vor allem wenn es nach dem Ausdruck in Miss Cracrofts wunderbaren blauen Augen ging.
Als die HMS Erebus und Terror aus dem Hafen von Hobart Town ausliefen, nannte Crozier Sophia immer noch »Miss Cracroft«, aber die geheimen Bande zwischen ihnen waren nicht zu leugnen: verstohlene Blicke, verständnisvolles Schweigen, neckende Scherzworte und stille Momente unter vier Augen. Crozier wusste, dass er sich zum ersten Mal verliebt hatte in einem Leben, dessen »Romantik« sich bis dahin in Hafenbordellen, in dunklen Gassen, mit Einheimischen, die es für billigen Tand taten, und ganz selten in vornehmen, überteuerten Londoner Freudenhäusern abgespielt hatte.
Mit einem Mal hatte Francis Crozier begriffen, dass die erotischsten Kleider, die eine Frau tragen konnte, die vielen tugendhaften
Schichten waren, in die Sophia Cracroft beim Diner im Haus des Gouverneurs gehüllt war, seidene Stoffe, die die Rundungen ihres Körpers verbargen und es einem Mann gestatteten, sich auf die Anmut ihres Geistes zu konzentrieren.
Dann folgten zwei Jahre Packeis, flüchtige Eindrücke von der Antarktis, der Gestank von Pinguinnestern, die Benennung zweier rauchenderVulkane nach ihren müden Schiffen, Dunkelheit, Frühling, die Gefahr des Eingeschlossenwerdens, die mit letzter Kraft bewerkstelligte Flucht durch ein Meer, das jetzt James Ross’ Namen trug, die raue Überfahrt durch die südliche See und schließlich die Rückkehr nach Hobart Town, zu der Insel der achtzehntausend Gefangenen und eines äußerst unglücklichen Gouverneurs. Diesmal gab es keinen Rundgang durch die Erebus und Terror. Dafür stank die Besatzung zu sehr nach Schmalz und Gekochtem, nach Schweiß und Erschöpfung. Die jungen Burschen, die frohgemut in den Süden gesegelt waren, waren zu hohlwangigen, bärtigen Männern geworden, die nie wieder für eine Forschungsreise der Royal Navy anheuern würden. Alle sehnten sich nach der Heimkehr ins ferne England. Mit einer Ausnahme. Francis Crozier sehnte sich nach
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