Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
die seit Jahren dieselbe ist. Daneben die unvermeidlichen drei Nelken aus dem Väschen. Die Gäste wirken alle müde, nur Nora sieht aus wie eine Rose, die sich aus einem Misthaufen erhoben hat. Eine Rose aus weißem Porzellan, der Hals wie der eines jungen Schwans, um den ein billiges Kreuz hängt.
Nie weiß ich, ob ich sie ansprechen soll. Zu viele Jahre des Weckerklingelns trennen uns, und die Platituden der Mitgäste erschrecken mich. Vor allem befürchte ich, dass ich auch nichts Besseres von mir geben würde.
So schweige ich auch hier, sehe Nora an und träume, das Essen ist nur Lückenfüller, von mir gar nicht richtig wahrgenommen. Das heißt, wenn ich nicht durch die Rentnerband nebenan gestört werde. Bekenntnisse, wie: »Nein, Alkoholiker bin ich nicht! Alkis fangen direkt nach dem Aufstehen an zu saufen. Und ich trinke nie vor 16 Uhr! « Wobei er vergisst, dass er bis mindestens drei Uhr morgens im Bistro ist. Oder: »Genau! Also, ich hab mit dem Bier ganz und völlig aufgehört!« (verschworenes Kopfnicken der übrigen). »Ich trinke nur noch Wein«
Man nickt wieder wie beim Leichenschmaus, aus der alten Box singt Billie Holliday: That old Devil called Love.
Durchs Fenster sehe ich alte, riesige Fabrikschlote, die sich in den anthrazitgrauen Himmel schrauben. Dann ein Laden für Italienisches, der eigentlich ein alter Bunker ist, ein Obstkorb liegt umgekippt auf dem holprigen Pflaster. Daneben Lattenzäune, auf denen ein Tourneeplakat von David Bowie zerrissen weht, am Abend werfen impotente Gaslaternen ihr krankes Licht auf Mülltonnen. Die S-Bahn rauscht durch den Tunnel und lässt die Biergläser wackeln, und, wie ich meine, auch die Särge im Beerdigungsinstitut (mit 60 Quadrat!) nebenan. Eigentlich ist es hier genauso tot wie in meinem Nachbarhaus. Dann wieder völlige Stille.
Aber da ist ja noch Nora. Sie sieht uns mit dem unpersönlichen Blick einer Tigerin an, der Oberkörper ist vornübergebeugt, ihr blasses Kinn ruht auf dem rechten Handrücken, der Qualm ihres Zigarillo erreicht das Diebes-Schild über dem Tresen, und ihr Minirock rutscht in X-Rate-Höhe. Braunverfärbte Kegelpokale auf den Regalen zeugen von vergangenen Heldentaten, ein Apothekenkalender vom letzten Jahr hängt schief an der Holzimitat-Tapete.
Schweigen. Schweigen.
Ich esse geräuschlos, die schöne Nora nimmt wortlos meine 8 Euro entgegen, und ich starre sie großäugig an, wie ein Diener seine Herrin, der nicht weiß, ob er den Todesstoß bekommt oder nicht.
Dann gehe ich nach Hause, und rechne die Minuten aus, die wie Krebszellen auf mich warten: 540 an der Zahl! Aber ich werde fernsehen und auf dem laufendem bleiben; vielleicht ergibt sich doch mal ein Gespräch mit Nora.
Irgendwann schalte ich dann ab und habe eigentlich gar nichts gesehen. Blicke nochmals auf den grauen Betonklotz, der bedrohlich näher gerückt ist. Dann verfolge ich noch fünfmal den Sekundenzeiger, je fünf Minuten lang und ertappe mich wieder dabei, wie ich ihn anpuste, damit alles schneller geht. Doch er bleibt unbeeindruckt wie ein HiPo, dem ich irgendeine Ausrede wegen meiner Falschparkerei erzähle. Tick, tick, tick. Dann schlage ich mit den Fäusten gegen die Wand, einfach nur so. Erstaunt stelle ich fest, dass sich dadurch das Zittern in meinem Körper beruhigt hat, das Würgen in meinem Hals aufhört, doch der Schrei aus meiner Kehle will mir ebenso wenig gefallen wie das kalkweiße Gesicht, das sich im Badezimmerspiegel zeigt, den ich auch mal wieder putzen sollte. Dieses Gesicht soll noch eine neunstellige Minutenzahl zur Verfügung haben? Es sieht aus, als sei es schon seit 2760 Minuten tot. Mein Arzt hat sich bestimmt geirrt ... Tick, tick, tick.
Dann mache ich etwas für mich Exotisches: Ich liege im Bett und stelle mir vor, wie Nora, die schöne Nora mit der Porzellanhaut und der Frisur aus den dreißiger Jahren, halb über meinem nackten Körper liegt und mein Geschlecht in ihrem Mund hat. Die Phantasie ist billig, aber schnell. Ihr Körper duftet nach Obsession, und ich kraule ihren Pagenkopf. Mit der Rechten knetet sie meine Hoden, und ich bewundere die leichenhafte Blässe ihrer Haut. Ihre Zunge ist langsam und wissend, ihre Lippen feucht und saugend. Aber mein Glied liegt weich zwischen ihren kleinen Zähnen, wie eine faule Eidechse in der Sonne. Nora verschwindet kurzzeitig aus meinem Hirn, und ich lege jetzt richtig Hand an mich. Ich schwitze, mein Becken macht die irrwitzigsten Bewegungen, doch das ficht die
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