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Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Titel: Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Peters
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ungefähr vierzig Jahre lang immer um die gleiche Uhrzeit vom Wecker aufgescheucht worden ist. Das ist also 8.600 Mal, den Urlaub abgezogen, und das hinterlässt Spuren. Spuren, die für mich vor der runden Uhr enden, eine Art Bahnhofsuhr-Imitat, sie steht genau auf dem Fernseher, dessen Programme ich ungefiltert aufnehme, aber es bleiben ab und zu ein paar neue Namen hängen, wie die von der Meret und dem Campino. Und Begriffe wie: X-Rate  
    Ein paar Zinnbecher, nie benutzt, stehen neben der Uhr, auf dem Regal darüber wenige nicht gelesene Bücher, die man mir gerne in  der Firma zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich hasse Geschenke, die ich nicht will, und warum hat man mich nicht vorher gefragt? Nach der Pensionierung habe ich sechs Mal am Tag den Minutenzeiger verfolgt. Tack, tack, tack. Das wurde mir zu langweilig, und nun habe ich es mit dem Sekundenzeiger versucht, der etwas mehr Leben in meine Bude bringt. Tick, tick, tick. Ich starre ihn an. Sechs Mal am Tag, das seit Jahren, aber er weigert sich hartnäckig, schneller zu gehen. Ab und zu verkrallen sich meine Finger über ihm, verharren in der Luft, sie wollen zugreifen und ihn wild herumdrehen, damit alles schneller geht und endlich zur Ruhe kommt. Aber was eigentlich? Eigentlich ist ja alles gut, nichts tut sich bei mir zu Hause, ich könnte dankbar sein. Auch mein Arzt ist zufrieden und hat mir vor ca. 2286 Minuten eine Lebenszeit von 15768000 Minuten verhießen - eine achtstellige Zahl! Mein Gott.
    Dreißig Jahre ungefähr noch, und ich will nun richtig zugreifen und den Sekundenzeiger wie irre herumdrehen, aber ich zittere zu sehr. Eine neunstellige Zahl. Wie man die wohl ausspricht? Na, Zeit, es zu lernen, hab ich ja noch...
    Zwischen meiner Zeiger-Beobachtung liegen frugale Mahlzeiten, ab und an ein Blick aus dem Fenster. Vor mir steht ein riesiger Betonklotz von Hochhaus. 70'er Jahres-Stil, alles grau, braun und ocker, das heißt, wo die Farben nicht abgeblättert sind.
    Kleine, geizige Fenster, mit Gängen, die aussehen wie die Laufgitter von Raubtieren. Auf ihnen bewegen sich tatsächlich irgendwelche Wesen: Männer in Jogginganzügen, Baseballmützen auf den fetten Köpfen, verkehrt herum natürlich. Trottelmützen nenne ich sie und könnte sie ihnen auf dem Kopf festnageln. Sie tragen Plastiktüten, aus denen dicke Weinflaschen hervorlugen, ihre Frauen zerren quengelige Bälger hinter sich her - natürlich auch mit Baseballmützen. Und sie sehen alle vollkommen dumm und sinnlos aus. Ja, ist das richtig? Kann man sinnlos aussehen? Auch die Bälger werden mal andere Bälger mit sich schleifen, die vielleicht noch sinnloser in die Welt gucken.
    Am liebsten hätte ich ein Gewehr und würde sie allesamt abschießen. Peng! Pitsch! Köpfe würden zerplatzen, Leiber über die Balkongitter fliegen.
    Aber auch diese Regung ist mir seit Jahren abhanden gekommen, und ich stelle fest, dass das Haus auch im Sommer in dunkles Licht getaucht ist, ein zutiefst deprimierender Anblick. Es steht in diesem dunklen Licht, sollte es so etwas  überhaupt geben und vermittelt den Eindruck ewigen Regens.
    Und manchmal scheint es mir, als dringe das Haus immer dichter  an mein Fenster vor. Also, vormittags beobachte ich den Sekundenzeiger dreimal. Jeweils fünf Minuten lang. Das heißt, zirka 345 Minuten noch bis zum Bistro-Besuch herumzukriegen, minus 20 Minuten aus dem Fenster auf den Betonklotz starren, da bleiben 325 Minuten Rest. Hm. Dann vorher das Frühstücksfernsehen, 10 Minuten etwa, sonntags 2 Minuten länger (das Frühstücksei), minus 2 Minuten  Wegräumen, bleiben noch 273 Minuten.
    Und die kriege ich auch noch irgendwie rum, man muss mir nur Zeit lassen, ha, ha ha. Das ist wieder eine Minuszeit von – wie viele Sekunden?
    Ich bin der Minusmann. Endlich Zeit, um ins Bistro zu gehen. Früher war es eine Kneipe, aber nur die Bezeichnung hat sich geändert, Einrichtung und Publikum sind  gleich geblieben. Bis auf einen: Den alten Mann. Er sieht mich an, und irgendwann ist er dran. Natürlich könnte ich mir mittags selber was brutzeln, aber ich glaube nicht, dass es gut für meine Minus-Psyche wäre. Und vor allem könnte ich nicht die brünette Nora sehen, die grazil und jung hinter der Theke steht. Nora, mit ihrer Pagenfrisur aus den dreißiger Jahren und einem Minirock aus den Neunzigern. Wenn sie mich gegen Eins reinkommen sieht, empfange ich dankbar ein kurzes Lächeln aus ihrem Zigarillomund, dann wähle ich ein billiges Gericht von der Tageskarte,

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