Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
angekommen waren. „Was hältst du davon, wenn ich dich jetzt hier hineinwerfen und dich dann Clown Pennywise mit seinen Eisenzähnen auffressen wird? Er lebt ja ganz tief im Kanal.“
„Oh, das ist toll!“ kreischte Terry. „Du kennst Pennywise, den bösen Clown aus dem Buch ES. Ich dachte, du kennst nur langweilige Typen, wie den Kleinen Prinz zum Beispiel. Der würde auch eher zur dir passen. Aber du kennst den verrückten Clown Pennywise, das finde ich geil! Hey, wusstest du eigentlich, dass der Kleine Prinz wahrscheinlich schwul war?“ Lars grinste zum ersten Mal an diesem Tag. Er beugte sich nach vorne und tat so, als wolle er Terry ins Kanalrohr werfen. Sie quiekte vor Vergnügen.
„Oh, du bist ja gar nicht langweilig! Du bist nicht langweilig, und der Kleine Prinz ist schwul! Er ist schwuhuuul ...!“ tönte sie durch das Tal, Lars stellte sie wieder auf die Treppe zurück. Kein Zentimeter seines teuren Outfits war trocken geblieben. Endlich fragte er: „Wo sind eigentlich deine Eltern?“ Sie schmollte und druckste herum. Dann antwortete sie: „Ich bin aus einem Waisenhaus abgehauen. Niemand wollte mich haben. Nur der Rabe Nimmermehr!“ Lars sah sie ungläubig an.
„Was soll das heißen?“ Sie tänzelte um ihn herum und gab sich geheimnisvoll.
„Der Rabe Nimmermehr hat mich einfach gepackt und hier abgesetzt. Manchmal bringt er mir etwas zu essen. Aber stell` nicht wieder solche langweiligen Fragen. Lars stand fassungslos vor dem Mädchen.
„So, jetzt musst du gehen“, sagte sie in geschäftlichem Ton.
Ihre Haare standen wild nach allen Seiten ab. „Aber du wirst wiederkommen“, setzte sie nach. „Bald sogar. Und ich werde hier sein. Ich werde auf dich warten. Dann werde ich dir zeigen, wie man liebt, und ich werde dir zeigen, wie man Menschen tötet. He, komm` her und bück’ dich!“ Sie machte den Zeigefinger krumm, und Lars beugte sich zu Terry hinunter. Sie nahm seinen Kopf in ihre kleinen Hände und gab ihm einen sanften Kuss auf die trockenen Lippen. Lars versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Es gelang ihm nicht. Stattdessen fingerte er langatmig an seinen Schuhen herum und brachte seine Kleidung in Ordnung. Als er sich umdrehte, war Terry verschwunden. Und als auch noch ein schwarzer Vogel in der hereinbrechenden Dämmerung sein Raab, Raab! machte, standen Lars die Haare zu Berge. Plötzlich hörte Lars Terry rufen: „Und grüße den Falter von mir!“ Ihre dünne Stimme hallte durchs ganze Tal, und Angst hielt sein Herz umklammert. Was ist mit dem blöden Falter? Bekomme ich Verfolgungswahn? Oder habe ich mich verhört? Was meint sie damit? Eine Eule auf einem dürren Zweig starrte Lars intensiv an. Es raschelte und das Tal war beinahe stockdunkel. Nur mit Mühe konnte Lars seinen Wagen wieder finden und raste wie von Furien gehetzt nach Hause.
In der Nacht ging er zurück zur Fabrik. Ein protziger Mond erhellte die Fabrik, die sich vor ihm zu verstecken suchte. Die Gebäude schienen ängstlich aneinandergepresst, um den Mondstrahlen zu entgehen. Lars wusste selber nicht, was er suchte. Terry? Gleichzeitig fühlte er sich von der Fabrik angezogen. Sie und Terry schienen in unheiliger Allianz zusammen zu gehören. Vorsichtig ging er über morsche Brückenbohlen, die schwankten und knarrten, hinüber zur kleinen Insel, um alles besser übersehen zu können. Es war still, der Fluss war ebenso lautlos wie die Blätter der Bäume, die der nächtliche Wind zart hin und herwehte. Septembernebel schmierte um die Hallen, ein großes Fenster von innen erhellt. Lars zuckte zusammen. Da wird doch noch gearbeitet, dachte er. Das Licht war nicht künstlich. Es war ein Feuer, das in einem unsichtbaren Herd loderte. Die Schatten, die es an die Fenster warf, beunruhigten ihn. Große Gestalten werkelten an Arbeitstischen herum. Sie schwangen Hämmer auf Werkzeugteile, die Lars lieber gar nicht erst sehen wollte. Dabei entstand ein Geräusch, das ihn unruhig machte; sein Magen zog sich zusammen. Ein riesiger Falter flog an Lars vorbei, und er zuckte zusammen. Noch unruhiger machten ihn die dunklen Silhouetten der Arbeiter. Sie trugen große Kittel. Aus den Ärmeln ragten aber keine muskulösen Glieder, sondern riesige Vogelschwingen. Auf den Schultern waren Köpfe, aus denen gebogene Schnäbel hervorlugten, und dann drehten sie sich nach ihm um, wobei aus ihnen grüner Geifer auf den Boden floss. Aus den Schnäbeln drangen Laute, die Lars an die von gequälten Schweinen
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