Tesarenland (German Edition)
tonlos. Meine Stimme hat ausgesetzt , ich schlucke ein paar Mal, aber der Kloß in meinem Hals ist widerspenstig.
»Du kannst dich wieder anziehen. Deine Schwester möchte ich auch noch sehen.«
Sie muss meine beschleunigte Atmung bemerkt haben, denn sie blickt mich fragend an. »Beunruhigt ?«
»Kann ich wieder gehen«, frage ich nur.
Sie schaut auf den Ausleser. »Wir sind fertig.«
Heißt das, sie wird mich nicht töten? Wird mich gleich ein Tesar mitnehmen und in den Wald schaffen? »Meine Mutter, lebt sie noch?« Bevor ich sterbe, muss ich es wissen. Es kostet mich kaum Überwindung, die Frau zu fragen. Wahrscheinlich hat man mehr Mut, wenn der Tod auf einen lauert. Warum auch sollte man mit dem Tod vor Augen noch Angst vor irgendwas haben?
»Das weiß ich nicht. Wir sind hier nicht auf dem neuesten Stand«, sagt sie. Das ist nicht, was ich hören wollte. Aber ich spüre deswegen keine Enttäuschung. Vielleicht, weil die Unwissenheit besser ist als die Gewissheit. Wenigstens hat sie mir geantwortet, das ist mehr, als ich erwartet habe.
Ich knöpfe meine Jacke wieder zu und lehne mich an den Metalltisch, der in meinem Rücken steht. Die Frau schaut zu mir auf, den Ausleser in der Hand. »Du kannst gehen. Morgen früh bringst du mir deine Schwester.«
Ich möchte hysterisch auflachen. Sie lässt mich einfach gehen. Aber wirklich erleichtert kann ich nicht sein. Morgen will sie Kayla sehen und dann wird sie merken, dass meine Schwester krank ist. Und sie wird sie nicht wieder gehen lassen. Dessen bin ich mir sicher. Ich trete auf die Tür zu, bevor ich die Funktionshütte verlasse, drehe ich mich noch einmal um. Die Frau im Kittel steht über ihre Notizen gebeugt und schreibt. Dass ich noch immer hier bin, scheint sie nicht zu interessieren.
6. Kapitel
Eigentlich sollte ich jetzt zur Arbeit in die Mine gehen. Bis zur Mittagspause ist es noch eine Weile hin. Aber ich kann nicht. Mir steckt die Furcht noch immer in den Gliedern. Dem eigenen Tod entgangen zu sein, ist nicht so schön, wie man denkt, wenn man weiß, dass der einzige Mensch den man noch hat, der Mensch, den man über alles auf der Welt liebt, sterben wird. Unweigerlich.
Ich weiß, Kayla hat keine Chance, aber das bedeutet nicht, dass wir aufgeben werden. Was auch immer die Tesare mit uns gemacht haben, es war nur wieder eins ihrer perfiden Experimente, von denen wir auch in Kolonie D gehört haben. Ich muss einen Weg finden, sie in Sicherheit zu bringen. Ich werde dafür sorgen, dass sie als freier Mensch sterben kann. Weil Mutter es so gewollt hätte.
Ich denke an den Tag, als Vater starb. Mutter hatte sich über seine Leiche gebeugt. Tränen rannen wie Wasserfälle über ihre Wangen. Der Kampf gegen Vaters Krankheit hatte an ihr gezerrt, ihr Haar hing strähnig ihn ihr Gesicht. Eigentlich trug sie es immer in einem Zopf, um Vater zu gefallen. Sie sah müde aus. Gleich würde der Oberaufseher mit einigen Helfern kommen und sie würden Vater mitnehmen und draußen an der Grenze verbrennen.
Ich stand neben ihr, hielt Kaylas Hand, die leise schluchzte und fassungslos in Vaters Gesicht schaute. Mutter hielt seine Hand und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Dann hob sie den Kopf, sah von mir zu Kayla, dann wieder zu mir. »Wenn wir frei gewesen wären, hätte er es schaffen können. Früher hätte er überlebt.« Dann senkte sie den Blick wieder auf Vater und sagte: »Mein einziger Wunsch ist, dass ihr irgendwann frei sein könnt.«
Damals hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht. Ich kannte ja nichts anderes, als Kolonie D. Natürlich haben wir alle irgendwann schon überlegt, wie es sein würde ohne die Tesare. Aber niemand hat ernsthaft daran gedacht, Kolonie D zu verlassen. Zumindest hat keiner darüber geredet.
Jetzt wird mir erstmals klar, dass es doch so gewesen sein muss, dass die Erwachsenen doch über ein Leben außerhalb der Kolonien nachgedacht haben. Warum sonst hätte meine Mutter das sagen sollen?
Mit zielstrebigen Schritten gehe ich auf das kleine Toilettenhäuschen zu. Einer der Tesare schaut mich an, rührt sich aber nicht von seinem Posten. Ich gehe um die Hütte herum und lasse mich gegen die Rückwand sinken. Der Boden ist gefroren und die Kälte dringt sofort durch meine Kleidung, aber es macht mir nichts aus. Ich ziehe die Beine an und verschränke die Arme auf den Knien.
Direkt hinter den Hütten, nur zwei Schritte von mir entfernt steigt der steile Abhang empor, der unser Lager
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