Tesarenland (German Edition)
umschließt. Er ist ganz bedeckt von Laub und einer dünnen Schicht Schnee. Oben stehen Bäume bis an den Rand gedrängt. Ein paar sind so nahe am Abgrund gewachsen, dass sie sich gefährlich neigen. Es sieht aus, als würden sie jeden Augenblick hinunterstürzen. Ich überlege, ob so ein groß gewachsener Baum es schaffen könnte, den Lichtzaun zu durchbrechen. Wie viel Kraft bräuchte es, um den Zaun zu zerstören? Kann er überhaupt ausgeschaltet werden?
Wenn der Zaun nicht wäre, könnte ich Kayla nehmen, mit ihr den Hang hinaufsteigen und durch den Wald fliehen. Die Bäume würden uns vor den Speeren schützen, weil die Tesare nicht richtig zielen könnten. Wenn der Zaun nicht wäre. Ich drücke meine Finger in die gefrorene Erde, bis der Schmerz einsetzt.
Vielleicht sollte ich alles einfach passieren lassen. Kayla geht es gut hier. Sie hätte noch einen Tag, oder zwei. Sie fängt gerade an, ihr neues Leben zu genießen. Der Speer ist ein schneller Tod. »E r hätte überleben können«, hat Mutter gesagt. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber was, wenn Kayla dort draußen wirklich gesund werden könnte? Mutter hat so sicher geklungen.
Meine Finger ertasten unter dem Laub einen Stein, etwa so groß wie ein Vogelei. Ich nehme ihn, stehe auf und werfe. Er fliegt den ganzen Weg den Abhang hinauf und landet irgendwo dort oben, wo ich ihn nicht mehr sehen kann. Ich schnaube. Also ist der Zaun dort oben. Das erweitert unseren Bewegungsradius um eine unnutzbare Zone, denke ich bitter und lehne mich gegen das Toilettenhäuschen. Es wundert mich, dass noch keiner der Tesare nach mir gesehen hat. Aber wohin soll ich auch verschwunden sein?
Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung zwischen den Bäumen am Rand der Anhöhe wahr. Ich sehe genauer hin. Ich muss mich geirrt haben. Da ist nichts. Dann taucht ein rotbrauner Kopf auf, eine längliche Schnauze und schlappe, herabhängende Ohren. Ein Tier? Es schaut zu mir herunter, tritt näher an den Abgrund. Es muss mir etwa bis zu den Knien reichen. Sein Schwanz wedelt hin und her. Wahrscheinlich hat der St ein den Hund neugierig gemacht.
Der Hund läuft am Rand des Abgrunds entlang. Ein paar Meter hin, ein paar zurück. Es sieht aus, als überlege er, ob es sich lohnen könnte, den Weg nach unten zu nehmen. Wie ist er durch den Zaun gekommen?
Ein zweiter taucht neben ihm auf. Er ist ganz schwarz. Sein Fell ist länger als das des anderen. Er sieht auch zu mir herunter. Er macht einen vorsichtigen Schritt nach unten. Noch einen. Und noch einen. Dann rutscht er auf dem feuchten Laub aus. Er rudert mit den Pfoten und jault quietschend auf. Ein Geräusch, das mir bis in die Knochen zu dringen scheint. Er hat Hunger, denke ich und überlege gerade, mich vorsichtshalber in Sicherheit zu bringen, als ein Tesarenspeer neben mir aufleuchtet und beide Hunde zu Asche macht.
Mein Mund klappt mir auf und ich rechne damit, dass der Tesar mich auch töten wird. Ich schließe die Augen und halte die Luft an. Er gluckst etwas, ich sehe ihn an. Mit seinem Speer bedeutet er mir, mein Versteck zu verlassen. Er stößt mich in Richtung der Mine. Warum tötet er mich nicht, nach dem, was ich gerade gesehen habe? Ich denke nicht weiter darüber nach. Dazu bin ich viel zu aufgeregt.
In der Mittagspause mache ich mich auf die Suche nach Luca. Er steht mit ein paar anderen Jungen in der Gasse zwischen zwei Wohnhütten. Ich bleibe ein paar Schritte entfernt stehen und winke ihn zu mir. Er schaut mich fragend an, kommt aber gleich rüber. Als er die Gruppe Jungen verlässt und auf mich zugeht, machen seine Freunde Witze. Ich kann spüren, wie ich rot werde, und sehe zu, dass ich außer Sicht komme. Luca folgt mir. Kayla habe ich beim Brunnen zurückgelassen. Ich will nicht, dass sie mitbekommt, worüber ich mit Luca rede.
»Stimmt was nicht?«, will Luca wissen. Ich zerre ihn hinter mir her zum Toilettenhäuschen. Das bringt uns noch mehr belustigte Blicke ein. Luca zieht die Augenbrauen hoch, als ich mich brabbelnd darüber beschwere, was für Idioten unsere Mitkolonisten doch alle wären.
»Also? Was ist passiert ?«, fragt er und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Holzwand. »Ich gehe davon aus, dass du mich nicht zum Kuscheln hier hergebracht hast.«
Dafür erntet Luca von mir einen bösen Blick. »Ich dachte, du hältst nicht viel von Reden und Gesellschaft«, sage ich schnippisch.
»Wie kommst du darauf?«
Ich zucke mit den Schultern. »In Kolonie D bist du jedenfalls
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