Tessy und die Zärtlichkeit des Kommissars
erbarmte sich schließlich ihrer entsetzt fragenden Augen und bat sie, dafür im Gegenzug Kontakt mit der Familie in Deutschland aufzunehmen. Kurz darauf begleitete eine Krankenschwester sie zum Parkplatz und deutete unter dem Mantel der Verschwiegenheit an, dass Moritz unter Umständen ein falsches Medikament bekommen haben könnte. Aber die Schwester schien ihr nicht besonders vertrauenswürdig – eher ein Tratschweib, das sich wichtig machen wollte. Als sie am gleichen Tag in Moritz Haus nach dem Rechten sah und Spuren eines Einbruchs bemerkte, gab ihr der Hinweis jedoch zu denken.
Es waren nur Kleinigkeiten, die wohl kaum jemandem aufgefallen wären, aber Anita war aufmerksam und hatte ein geschultes Auge. Sie wusste, ob ein Fenster angelehnt gewesen war oder nicht, der Bürostuhl auf eine andere Höhe eingestellt und der Inhalt von Schubladen umsortiert worden war. Dass sich jemand an Schreibtisch und PC zu schaffen gemacht hatte, war offensichtlich – sie kannte sich in Moritz kleinem Büro gut aus und war das letzte Mal dort gewesen, als sie die Post weggebracht und die Einlieferungsscheine in den Ablagekorb gelegt hatte. Die befanden sich nun in einer Schublade. Sie zögerte nur einen Moment, dann schaltete sie den PC wieder aus und stieg auf den Dachboden.
Während eines ihrer vertrauensvollen Gespräche hatte Moritz ihr mal erzählt, dass er ein ziemlicher Kindskopf und schon immer ein leidenschaftlicher Geheimniskrämer gewesen sei. So würde er seine Tagebücher in einer alten Wäschetruhe unter dem Dach aufbewahren. Damals hatte sie über diesen Spleen geschmunzelt und war über seine Offenheit angenehm berührt gewesen. Nun kamen ihr plötzlich ganz andere Gedanken.
Der Zugang zum Dach war gar nicht so einfach zu finden. Anita entdeckte die Luke schließlich im Vorratsraum, wo sich hinter einem Regal auch eine Leiter befand. Die Truhe stand zwischen alten ausrangierten Möbeln und fiel nur ins Auge, wenn man nach ihr Ausschau hielt. Plötzlich hatte Anita es sehr eilig. Schweiß lief ihr den Rücken hinab. Sie blinzelte im trüben Dämmerlicht und hob den Deckel an, der sich, wie ihr schien, nur ungern bewegen ließ. Die Tagebücher waren zusammen mit anderen Papieren in einen Umschlag aus brüchigem Leder gehüllt und lagen unter einem Stoß Fotoalben und Aktenordnern begraben. Anita nahm sie an sich und verließ umgehend das Haus.
Kapitel 5
Sie fuhr schnell – fast dreißig Kilometer in der Stunde. Das Mountainbike flitzte mit summenden Reifen mühelos über den Mauerweg; Krähen staksten über ein brachliegendes Feld und wurden von einem wild tösenden Hunderudel aufgescheucht. Blitzblauer Himmel. Sprießendes Grün. Nach den vielen trüben Regenmonaten ein Genuss. In dem Tempo benötigte Tessy bis Lichtenrade gerade mal eine Viertelstunde, und normalerweise genoss sie es mit allen Sinnen, sich auf diese Weise auszupowern, zumindest hier draußen. In Richtung Kreuzberg und Mitte war Radfahren der reinste Stress.
Kerstin hatte eine halbe Stunde zuvor angerufen. Ihre Stimme war von Wut, Trauer und Frust erfüllt gewesen, und Tessy hatte sich sofort auf den Weg gemacht. Die kleine Dachkammer, die sie als Schlafzimmer nutzte, konnte sie auch ein anderes Mal streichen.
Patricks Tod lag eine gute Woche zurück. In den vergangenen Tagen hatte Tessy darauf verzichtet, weitere Details über die polizeilichen Ermittlungen in Erfahrung bringen zu wollen – die bislang vorliegenden Ergebnisse klangen immer noch so unvorstellbar, dass sie Mühe hatte, sie zu verdauen. Dafür war sie täglich bei Kerstin gewesen, hatte ihr manche Arbeit und Erledigung abgenommen und sich all den Kummer angehört, der über eine Frau hereinbrach, die plötzlich und unerwartet Witwe geworden war. Noch dazu auf diese Weise. Ansonsten hatte Tessy im Haus gewerkelt. Leider hatte Gertrud wenig Zeit gehabt, so dass sie immer noch nicht dazu gekommen waren, den Dildo auszuprobieren.
Eigentlich müsste ich mich endlich mal um einen Job kümmern, dachte Tessy, als sie in die Straße einbog, in der Kerstin wohnte. Sogar dringend. Sie ließ ihren Blick über die akkuraten Häuser und hübschen Gärten schweifen, während ihr Atem sich allmählich beruhigte. Ihren Kontostand fragte sie schon gar nicht mehr ab, und sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie ihren betagten Renault das letzte Mal voll getankt hatte. Den Notgroschen, den Edgar ihr zurück gelassen hatte, wollte sie nicht anrühren – noch nicht. Blieb also nur
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