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Test: Phantastische Erzahlungen

Test: Phantastische Erzahlungen

Titel: Test: Phantastische Erzahlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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… Er kämpf e, ohne zu wissen, wogegen er sich auflehnte. Ihm war, als bemühe er sich, einen riesigen Stein aufzuheben, der ihn zu Boden drückte. Er war nicht einmal imstande, vor Anstrengung zu zittern. Im letzten Aufblitzen seines Bewußtseins sammelte er die Kraf , die ihm verblieben war, und stöhnte. Er hörte dieses Stöhnen, das gedämpf klang, wie aus weiter Ferne, wie das Funksignal von einem anderen Planeten.
      Eine Sekunde lang war er nahe daran, aufzuwachen. Er versuchte, sich zu konzentrieren, mit dem Erfolg, daß er in die nächste Agonie versank, die noch schwärzer, noch tiefer war und alles hinwegschwemmte.
      Schmerzen hatte er nicht. Ja, wenn ihm ein Schmerz im Leibe säße, dann wäre es anders! Ein Schmerz würde gewisse Grenzen abstecken, er würde an seinen Nerven zerren und ihm ermöglichen, sich selbst zu erkennen … Aber das, was ihn festhielt, war eine schmerzlose Agonie, war tote, sich stauende Leere. Er spürte, wie die Luf in ihn drang, nicht in die Lunge, sondern ins Hirn, in ein Chaos zitternder, verkrampf er Gedanken. Stöhnen! dachte er. Nur einmal aufstöhnen, sich selbst hören …
      »Wenn jemand stöhnen will, braucht er nicht an die Sterne zu denken«, sagte die unbekannte nahe Stimme, die so fremd war. Er überlegte. Er stöhnte nicht. Es gab ihn nicht mehr. Er wußte nicht, wer er war. Kalte, zähe Ströme durchdrangen ihn. Aber was am schlimmsten war – nicht einer der »Ertrunkenen« hatte auch nur andeutungsweise davon berichtet, nicht einer hatte erzählt, daß er porös wurde … Er war ein Loch, ein Sieb, ein Labyrinth mit winkeligen Höhlen oder Gängen …
      Schließlich zerf el auch das, nur die Angst blieb. Sie blieb selbst dann noch, als die Dunkelheit schwand, als ein Flimmern die Finsternis zerriß wie ein Schauder.
      Dann wurde es schlimmer, viel schlimmer. Pirx konnte sich später nicht mehr an Einzelheiten erinnern, überdies gab es noch keine Bezeichnungen für derartige Erlebnisse – er war jedenfalls außerstande, darüber zu berichten. Die »Ertrunkenen« waren um eine scheußliche Erfahrung reicher, von der kein Laie etwas ahnte. Zu beneiden waren sie nicht.
      Pirx kostete es aus bis zur Neige. Eine Zeitlang war er nicht da, dann wieder existierte er vervielfältigt, dann fraß ihm etwas das Hirn leer, dann geschahen gewisse verworrene, undef nierbare Ungeheuerlichkeiten … Die Angst schweißte alles zusammen, sie überdauerte alles – Körper, Zeit und Raum. Pirx genoß sie bis zum Überdruß.
      Als alles vorbei war, sagte Dr. Grotius: »Sie haben zum erstenmal in der hundertachtunddreißigsten Minute aufgestöhnt, zum zweitenmal in der zweihundertsiebenundzwanzigsten. Im ganzen drei Strafpunkte. Nicht zittern! Werfen Sie bitte ein Bein über das andere, ich untersuche jetzt die Ref exe … Wie haben Sie nur so lange ausgehalten?«
      Pirx saß auf einem vierfach zusammengefalteten Handtuch, er spürte, daß es rauh war, und das tat ihm gut. Er kam sich vor wie Lazarus. Nicht daß er so aussah, aber er fühlte sich, als sei er auferstanden, als sei er wiedergeboren. Sieben Stunden – die beste Placierung! In den letzten drei Stunden war er wohl tausendmal gestorben, aber er hatte nicht gestöhnt. Man zog ihn heraus, rieb ihn ab, massierte ihn, gab ihm eine Spritze, einen Schluck Kognak und führte ihn ins Untersuchungszimmer, wo Dr. Grotius wartete. Unterwegs warf er einen Blick in den Spiegel, noch immer völlig benommen, als sei er nach mehrmonatigem Fieber aufgestanden. Er wußte, daß alles vorüber war. Er schaute nicht deshalb in den Spiegel, weil er damit rechnete, ergrautes Haar zu sehen – nein, er tat es nur so im Vorbeigehen. Er erblickte sein breites Gesicht, drehte sich rasch wieder um und marschierte weiter, wobei seine nassen Fußspuren auf dem Parkett zurückblieben. Dr. Grotius versuchte lange, ihn zum Reden zu bringen. Sieben Stunden, das war schon etwas. Der Arzt betrachtete Pirx mit anderen Augen als vorher – es war nicht Wohlwollen, sondern eher Neugier – die Neugier eines Entomologen, der einen unbekannten Nachtfalter oder einen außergewöhnlichen Wurm entdeckt hat. Vielleicht sah er darin das T ema einer wissenschaf lichen Arbeit?
      Pirx erwies sich – was leider festgestellt werden muß – als ein wenig dankbares Forschungsobjekt. Er saß da und blinzelte dümmlich. Alles war f ach, zweidimensional; wenn er mit der Hand nach einem Gegenstand langte, grif er entweder zu weit oder zu kurz.

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