Test: Phantastische Erzahlungen
Besessenheit, wie sie nur Wissenschaf lern eigen ist, hatte die ganze Gesellschaf erfaßt. Man brachte Fotos und sah sich einen Film an, den der Koronograph gedreht hatte. Die Protuberanz war tatsächlich außerordentlich groß, sie maß siebenhundertfünfzigtausend Kilometer und sah aus wie ein vorsintf utliches Gebilde mit f ammendem Rachen. Ganschin, Pnin, der dritte Astronom und Langner schalteten das Licht ein und unterhielten sich mit leuchtenden Augen – sie waren taub für alles andere. Als jemand an das unterbrochene Mittagessen erinnerte, kehrten sie in den Speiseraum zurück, aber sie schoben die Teller beiseite, bekritzelten die Papierservietten mit Zahlenkolonnen und fachsimpelten weiter. Dr. Pnin hatte ein Einsehen mit Pirx, der wie bei einer türkischen Predigt dasaß. Er bat ihn in sein Zimmer, das sehr klein war, aber einen bemerkenswerten Vorzug aufwies: es hatte ein großes Fenster, das den Blick auf den östlichen Gipfel des Ziolkowski-Massivs freigab. Die tiefstehende Sonne, die wie ein Höllentor klaf e, warf in das Gewirr der sich auf ürmenden Felsen lange Schatten, die mit ihrer Schwärze alle Formen verschlangen, als klaf te hinter jedem Rand des erhellten Gesteins ein teuf ischer Schacht, der bis zum Mittelpunkt des Mondes führte. Das Nichts schien sich in Berggipfel, schräge Türme, Zinnen und Obeliske aufzulösen, die der tintenschwarzen Finsternis entsprangen – wie ein Fels gewordenes Feuer, das im Fluge erstarrt war. Das Auge verlor sich inmitten all dieser Formen, die sich in keiner Weise zu einem Ganzen zusammenfügen ließen, es fand nur in den runden Höhlen der Schwärze, die leeren Augenhöhlen glichen, einen zweifelhaf en Halt, in den bis zum Rand mit Schatten angefüllten Tümpeln der kleinen Krater.
Es war ein einmaliger Anblick. Pirx war schon auf dem Mond gewesen – er hatte das bereits sechsmal betont –, aber noch nie zu dieser Zeit, neun Stunden vor dem Sonnenuntergang.
Pirx saß lange bei Pnin. Der Wissenschaf ler sagte »Herr Kollege« zu ihm, und er wußte nicht, wie er antworten sollte, er versuchte, die Anrede zu vermeiden, so gut es ging. Der Russe besaß eine phantastische Sammlung von Fotos, die er bei Kletterpartien gemacht hatte – er, Ganschin und ihr dritter Gefährte, der gegenwärtig auf der Erde weilte, widmeten ihre Freizeit der Alpinistik. Man hatte versucht, das Wort »Lunistik« in Umlauf zu bringen, aber der Begrif hatte sich nicht eingebürgert, zumal es ohnehin die »Mondalpen« gab. Pirx, der bereits vor seinem Eintritt in das Institut ein begeisterter Kletterer gewesen war, fand in Pnin eine verwandte Seele, und er begann ihn auszufragen, worin sich das Bergsteigen auf dem Mond von der irdischen Alpinistik unterscheide.
»Sie dürfen eines nicht vergessen, Herr Kollege«, sagte Pnin. »Tun Sie, solange es geht, alles so, als wären Sie auf der Erde. Eis gibt es hier nicht – wohl nur in sehr tiefen Spalten, und auch das unerhört selten –, und Schnee, versteht sich, gibt es auch nicht. Das verleitet zu der Annah me, das Bergsteigen sei sehr leicht, um so mehr, als man aus dreißig Meter Höhe abstürzen kann, ohne daß einem etwas geschieht. Aber daran darf man nicht denken.«
Pirx wunderte sich sehr. »Wieso?«
»Weil es hier keine Luf gibt«, erklärte der Astrophysiker. »Selbst wenn Sie noch so lange herumsteigen, Sie werden es nie lernen, die Entfernung richtig zu schätzen. Hier vermag nicht einmal der Entfernungsmesser viel zu helfen, und wer nimmt schon einen Entfernungsmesser mit? Sie erklimmen einen Gipfel, schauen in den Abgrund und haben die Vorstellung, er sei fünfzig Meter tief. Vielleicht ist er wirklich fünfzig Meter tief, vielleicht aber auch dreihundert oder fünf undert. Mir passierte es … Übrigens, Sie wissen ja, wie das ist. Wenn man sich erst einmal gesagt hat, daß man ohne weiteres abstürzen kann, dann wird das früher oder später wirklich passieren. Auf der Erde kann man sich den Kopf lädieren, und er heilt wieder, aber hier genügt ein fester Schlag auf den Helm, so daß die Scheibe platzt, und alles ist vorbei. Sie müssen sich also genauso wie in den irdischen Bergen verhalten. Was Sie sich dort erlauben, können Sie sich auch hier erlauben. Ich möchte Ihnen jedoch abraten, über einen Spalt zu springen. Selbst wenn Sie annehmen, daß er höchstens zehn Meter breit sei – was soviel wie anderthalb Meter auf der Erde wäre –, tun Sie es nicht, sondern werfen Sie erst einen
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