Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
darüber diskutieren. Auch ihr Sohn redet über nichts anderes als Ho-Chi-Minh, Napalm und Agent Orange. Friederike Wolter kann das alles nicht mehr hören. Kaum sitzt sie jetzt in einem Auto nach Westdeutschland, schon fängt die ganze Streiterei wieder an. Sie sehnt sich nach Köln und ihrer Tante. Die plappert zwar auch den ganzen Tag, aber wenigstens nicht über Vietnam.
Kurz vor der Zonengrenze bei Helmstedt-Marienborn ist plötzlich Schluss mit Vietnam. Keiner will eine solch politische Diskussion führen, wenn der nächste DDR-Grenzsoldat die Insassen beäugt und die Ausweise einsammelt. Das kostet nur Zeit, die übliche Prozedur mit Aussteigen und Durchleuchten dauert eh schon lang genug. Also schweigen alle.
Endlich ist der schwarze Mercedes in Westdeutschland, seit der Abfahrt aus Berlin sind fünf Stunden vergangen. Wenn alles optimal läuft, ist Friederike Wolter in vier Stunden in Köln. Doch dann fährt der Mercedes von der Autobahn ab in Richtung Braunschweig. Bei einer Tankstelle stoppt der Wagen. Der Fahrer dreht sich um und fragt die alte Dame mit dem Kakadu: »Wo müssen Sie genau hin?« Sie kramt in ihrer Handtasche und zieht einen vergilbten Zettel hervor. »Ich hab’s mir notiert … Bechtsbütteler Weg 10 … da wohnt mein Enkel jetzt … das hat er mir am Fernsprecher gesagt.«
Vier Stunden bis Köln, das kann Friederike Wolter nun vergessen. Denn bei einer Fahrt mit der Mitfahrzentrale muss nicht jeder bis Köln fahren. Man kann auch nur bis nach Hannover, Dortmund oder Essen buchen. Anders als heute, wo die Mitfahrer an einem zentralen Platz abgesetzt werden, fährt der Fahrer 1967 zu der Adresse, die man ihm nennt – und das in jeder Stadt, die zwischen der Zonengrenze und Köln liegt. Das kann dauern …
»Bechtsbütteler Weg haben Sie gesagt?«, fragt der Fahrer noch mal. »Jawohl, junger Mann.« Natürlich gibt es damals noch kein Navi, also zieht der Fahrer einen Stadtplan von Braunschweig aus dem Handschuhfach. Er ist vorbereitet, Elfriede Wuttke hat ihm genau gesagt, in welche Stadt welcher Fahrgast muss. Glück gehabt, der Bechtsbütteler Weg ist gar nicht weit von der Autobahn entfernt. Der Fahrer legt den Stadtplan auf den Schoß, während er langsam durch die Vororte Braunschweigs in Richtung Norden fährt. »Dorchen hat dich lieb«, krächzt der Kakadu. Lange ist der Vogel ruhig geblieben, seit sein Frauchen mit dem Fahrer spricht, ist er wieder voll da. Nach einer Viertelstunde biegt der Fahrer in den Bechtsbütteler Weg ein. »Welche Hausnummer meinten Sie?« – »Na, die 10, das habe ich doch vorher gesagt.«
Vor einem großen Mietshaus hält der Mercedes. »Wie heißt Ihr Enkel denn?« – »Na, Emil.« Der Fahrer lächelt die alte Dame an. »Ich meinte den Nachnamen. Dann kann ich schon mal klingeln.« – »Ach so, Hiller heißt er. Emil Hiller.« Der Fahrer lädt den Koffer aus und trägt ihn zur Haustür. Währenddessen steigt die alte Dame aus, Friederike Wolter reicht ihr den Vogelkäfig mit Dorchen. Doch dann kommt der Fahrer zurück. »Sind Sie sicher, dass Ihr Enkel hier wohnt? An keiner Klingel steht Hiller.« Die alte Dame nickt mit dem Kopf. »Nummer zehn. Das steht auf meinem Zettel.«
Der Fahrer geht noch mal zum Haus und überprüft die Klingelschilder. Kein Hiller. Dann rennt er zu den Nachbarhäusern. Aber auch bei Nummer 8, 12 und gegenüber bei der 9 und der 11 gibt es keinen Hiller. »Sie sind sich wirklich sicher, dass er im Bechtsbütteler Weg 10 wohnt?« Die alte Dame zögert ein wenig, bevor sie langsam nickt. »Das hat er mir am Fernsprecher gesagt.«
Unschlüssig stehen die beiden vor dem Wagen, während drinnen die anderen Mitfahrer unruhig werden. 20 Minuten steht der Wagen schon im Norden Braunschweigs – und kein Ende in Sicht. Jeder will weiterfahren. Doch bevor die alte Dame mit dem Kakadu nicht abgeliefert ist, geht’s nicht zurück auf die Autobahn. »Wissen Sie was, wir suchen die nächste Telefonzelle. Ihr Enkel steht doch sicher mit Adresse im Telefonbuch, oder?« Dankbar nickt die alte Dame.
Ein paar Hundert Meter Richtung Braunschweiger Innenstadt steht eine gelbe Telefonzelle. Der Fahrer springt aus dem Wagen, nach einer Minute kommt er lächelnd zurück. »Kein Wunder, dass wir Ihren Enkel nicht finden, gnädige Frau.« Er hält kurz inne, gespannt schauen ihn die Mitfahrer an. »Er wohnt nicht im Bechtsbütteler Weg 10, sondern in der Bechtsbütteler Straße 10. Das ist ein kleiner Unterschied.« Der Unterschied
Weitere Kostenlose Bücher