Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
sicher trinken und kiffen. Wenn er seiner Nachbarin heute mit dem Koffer hilft, wird sie dann auch nicht meckern … Also schleppt er den schweren Lederkoffer die drei Stockwerke nach unten und stellt ihn neben die Haustür. Friederike Wolter zückt eine Tafel Schokolade und drückt sie dem Studenten in die Hand. »Hier. Damit Sie mal ein bisschen Speck auf die Rippen kriegen, junger Mann!«
Immerhin, der Koffer ist schon mal unten. Friederike Wolter lehnt sich an die Hauswand und fischt ihr Strickzeug aus der Handtasche. Geschickt fädelt sie die gelbe Wolle zwischen Stricknadeln und Händen ein und legt los. Ein gelb-grün geringelter Pulli soll es werden – für ihren Sohn Thomas zu Weihnachten. Einen Ärmel hat sie bereits fertig. Jedes Jahr legt sie ihm was Selbstgestricktes unter den Christbaum. Vergangenes Jahr waren es rot-weiß gestreifte Socken, davor ein blauer Schal. Dass Thomas die Sachen ungetragen in den Schrank hängt, weil sie höllisch auf der Haut kratzen, merkt Mutter Friederike nicht. Schließlich ist ihr Sohn vor ein paar Monaten in ein eigenes Zimmer in eine Kreuzberger WG gezogen. Dort dominieren eindeutig Mao-Bibel und Ho-Chi-Minh-Poster, von Mutti gestrickte Pullis passen nicht wirklich rein.
Um Viertel nach neun Uhr hält ein schwarzer Mercedes vor der Haustür. Ein Mann Mitte vierzig steigt aus, Friederike Wolter nickt ihm zu und gibt ihm die Hand. Herr Lemke also. Mit dem ist sie schon öfter Richtung Köln gefahren. Der Fahrer trägt den Lederkoffer zum Auto, Friederike Wolter packt ihr Strickzeug in die Handtasche und schlurft mit der Essenstüte bewaffnet hinterher.
Sie ist die letzte Mitfahrerin, die Herr Lemke heute abholt. Pech. Denn nun ist der Beifahrersitz bereits vergeben – und drei andere Mitfahrer sitzen schon auf der Rückbank. Leider muss sie sich zu denen nach hinten quetschen. Gurte auf dem Rücksitz oder gar eine Anschnallpflicht gibt es 1967 noch nicht, aber dafür können sich vier statt drei Personen auf die Rückbank zwängen.
Neben Friederike Wolter sitzen ein älterer Herr mit dicker Hornbrille, ein Student in dunklem Anzug und eine Dame mit weißen Haaren. Auf ihrem Schoß steht ein Vogelkäfig. »Dorchen hat dich lieb«, krächzt ein weißer Kakadu mit großer Haube unentwegt. Schlafen wird bei dem Vogel unmöglich, so viel ist ihr klar. Zumal sie nicht nur seitlich wenig Platz hat. Denn der Mittsechziger auf dem Beifahrersitz ist sehr dick, weshalb er den Sitz weit nach hinten gerückt hat. Noch vor der Grenze zur DDR in Dreilinden hört Friederike Wolter sein lautes Schnarchen und greift zu ihrem Rätselheft.
Am Grenzübergang Dreilinden-Drewitz mustert der Grenzsoldat der Nationalen Volksarmee die Insassen des schwarzen Mercedes. »Dorchen hat dich lieb«, krächzt der Kakadu. Verärgert glotzt der Grenzer den Papagei an, der Rest des Wagens beißt sich auf die Lippen. Bloß nicht lachen! Sonst stellt der Soldat aus Rache den ganzen Wagen eigenhändig auf den Kopf. Dann kommen sie heute nie mehr nach Westdeutschland.
Der Soldat nimmt die Pässe und verschwindet in einem Grenzhäuschen. Sein Kamerad bedeutet den Personen mit einer Handbewegung, aus dem Auto auszusteigen. Ganz ruhig befolgt Friederike Wolter die Anweisungen. Das ist Alltag an der innerdeutschen Grenze. Erst wird das Auto durchleuchtet, danach bekommen alle ihre Pässe zurück mit einem neuen Stempel der Deutschen Demokratischen Republik. Dann darf der Mercedes auf die Transitautobahn Richtung Westdeutschland. Abstecher in die DDR sind dabei strengstens verboten. Deshalb fahren Zivilfahrzeuge mit Stasi-Mitarbeitern täglich die Autobahnen ab. Biegt ein Wagen aus Westdeutschland ins Landesinnere, können sie ihn sofort aufhalten.
Eine halbe Stunde fährt der Mercedes weiter Richtung Magdeburg. Der Dicke auf dem Beifahrersitz schnarcht, neben Friederike Wolter beginnen der Student und der ältere Herr mit der Hornbrille eine Diskussion über den Krieg in Vietnam. Während der Jüngere den Irrsinn des amerikanischen Einsatzes geißelt und sich mit den 400 000 Menschen solidarisiert, die ein paar Wochen vorher, im April, in New York gegen den Vietnam-Krieg demonstrierten, verteidigt der Ältere den Kampf gegen den Vietcong als Abwehr des Kommunismus. Und immer wieder plappert der Kakadu dazwischen: »Dorchen hat dich lieb.«
Vietnam, Vietnam, Vietnam. Immer nur Vietnam, denkt sich Friederike Wolter. Immer wenn ihr der Student aus der Nachbarwohnung die Post mit nach oben bringt, will er
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