Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
macht immerhin 3,5 Kilometer aus. Schnell hat der Fahrer die neue Adresse auf dem Stadtplan gefunden. Er verstaut den Koffer wieder im Auto und fährt los. Zehn Minuten später ist der Mercedes am Ziel, dieses Mal stimmt die Adresse. Der Fahrer lädt den Koffer aus und nimmt der alten Dame den Kakadu aus der Hand. Beides trägt er in den zweiten Stock. Keuchend kommt er zehn Minuten später zum Auto zurück. »So, das hätten wir geschafft. Auf geht’s nach Hannover.«
Hannover? Friederike Wolter ahnt nichts Gutes. Mittlerweile sind sie siebeneinhalb Stunden unterwegs. Und der Mercedes muss gleich jemanden in Hannover absetzen. Dann sind noch zwei andere Leute im Auto. Die fahren bis Dortmund und Düsseldorf mit, erfährt Friederike Wolter. Sie denkt an ihre Tante Wiltrud. Es wird spät werden. Hoffentlich macht sie sich keine Sorgen …
Doch Friederike Wolter weiß, dass Tante Wiltrud jedes Mal Beruhigungstropfen nimmt, wenn sie auf ihre Nichte wartet. Permanent wird sie die große Pendeluhr im Wohnzimmer anstarren. Deshalb will sie der Tante ein schönes Geschenk mitbringen. Pralinen liebt sie über alles. Dumm nur, dass Friederike Wolter in Berlin keine Zeit mehr hatte, welche zu besorgen. »Entschuldigung, Herr Lemke«, sagt sie zum Fahrer, als er in Hannover von der Autobahn abfährt. »Hätten Sie die Güte, an einer Konfiserie und an einem Blumenladen anzuhalten? Das wäre sehr nett.«
»Kein Problem«, sagt der Fahrer. Solche Extrawünsche der Fahrgäste kennt er. Fast bei jeder Fahrt muss er bei einem Blumenladen oder einem Kaufhaus ranfahren. Meist haben die Mitfahrer vergessen, ihren Verwandten in Westdeutschland etwas mitzubringen. Das fällt denen dann immer erst kurz vor Hannover ein. Das ist meist die Stadt, die er anfährt, bevor die Läden um sechs Uhr abends schließen. Mittlerweile kennt der Fahrer in Hannover einen sehr guten Konditor, Blumenläden fallen ihm sogar mehrere ein.
Zufrieden kommt Friederike Wolter aus der Konditorei zurück. Die Pralinen sehen super aus, da wird sich Tante Wiltrud freuen. In der anderen Hand hat sie ein zweites Papiertütchen und reicht es dem Fahrer. »Hier, lassen Sie es sich schmecken.« Es ist ein Nusshörnchen als kleines Dankeschön dafür, dass er auch noch vor einem Blumenladen anhält, wo Friederike Wolter einen großen bunten Frühlingsstrauß für ihre Tante kauft.
Dann widmet sie sich ihrem Kreuzworträtselheft, bis es zu dunkel wird. Danach zückt sie ihr Strickzeug, das geht auch ohne Licht. Nach Zwischenstopps in Dortmund und Düsseldorf sitzen nur noch Friederike Wolter und der Fahrer im Auto nach Köln. Um halb zwölf nachts fährt der Mercedes durch die Straßen des Kölner Stadtteils Ehrenfeld. Hier wohnt Tante Wiltrud – in der Stammstraße 4.
Mehr als 14 Stunden sind seit der Abfahrt in West-Berlin vergangen. Die arme Tante Wiltrud. Vor lauter Angst hatte sie bestimmt keine ruhige Minute. Der Fahrer trägt den Lederkoffer zur Tür des dreistöckigen Mietshauses. In dem Moment öffnet ein Polizeibeamter in einem schwarzen zylindrischen Tschako mit silbernem Stern und grüner Uniform die Tür. Er mustert erst den Mann mit dem Koffer, dann Friederike Wolter. »Wer sind Sie? Was machen Sie hier um die Uhrzeit?« Streng schaut er die beiden an. Zu der Zeit sind in der Stammstraße normalerweise keine Menschen mehr unterwegs.
»Ich komme aus Berlin, um meine Tante zu besuchen.« Die Gesichtszüge des Beamten entspannen sich. Er beginnt zu lächeln. »Na, da wird sich aber wer im zweiten Stock freuen. Und ehrlich gesagt, ich auch. Schönen Abend.« Lachend geht der Beamte aus dem Haus. Verständnislos blickt der Fahrer Friederike Wolter an. Die beginnt zu ahnen, was passiert ist: Als ihre Nichte nach zehn Stunden noch nicht bei ihr war, verständigte die Tante die Polizei. Die Beamten rieten ihr abzuwarten und wollten sie beruhigen, doch sie ließ nicht locker. Alle zehn Minuten rief sie auf der Wache an, bis man ihr endlich einen Beamten vorbeischickte.
Das war vor zwei Stunden. Seitdem flehte die verängstigte Tante, doch endlich eine Großfahndung einzuleiten. Der Beamte konnte sie nicht beruhigen. Stattdessen brachte sie ihn dazu, alle zehn Minuten zur Haustüre hinunterzugehen, um nachzuschauen, ob ihre Nichte nicht doch endlich angekommen sei. Ein halbes Dutzend Mal war er schon unten, als er den Fahrer und Friederike Wolter erblickte.
Oh Gott, die Arme, denkt sie sich. Gott sei Dank hat sie keinen Herzinfarkt bekommen. Weinend
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