Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
Handy? SMS? Dieser moderne Technikkram ist 1967 noch lange nicht erfunden. Aber Friederike Wolter braucht ihn auch nicht, um sich eine Fahrt von Westberlin nach Köln zu organisieren. Die Mittvierzigerin nutzt ihre Nachbarschaft im Stadtteil Schöneberg. Dort kennt sie jeden. Wenn ihr Kleid ein Loch hat, geht sie zur Schneiderin zwei Straßen weiter. Die Sonderangebote im Kramerladen von Herrn Schmitt weiß sie schon, bevor sie die Haustür verlässt. Frau Hansen im Erdgeschoss kennt sie auswendig und rattert sie jedem runter, der aus dem Haus geht. Und wenn Friederike Wolter zu ihrer Tante Wiltrud nach Köln will, dann geht sie in den Buchladen an der Ecke.
Da steht ein Schild im Fenster neben der Eingangstür: ›Mitfahrzentrale‹. Eine ältere Dame verkauft hier nicht nur Bücher, sondern vermittelt auch Fahrten in den Westen – nach Hamburg, München oder eben Köln. Für Elfriede Wuttke ist die Mitfahrzentrale ein willkommenes Zubrot, sonderlich viel wirft ihr Buchladen nicht ab. Fünf Fahrer hat sie an der Hand, die an einem Tag von Berlin ins Bundesgebiet fahren und am nächsten wieder zurückkehren. Ihr Gehalt bekommen sie von Elfriede Wuttke, die einen Teil des Fahrpreises als Vermittlungsgebühr behält. Jeder Fahrer hat einen großen Wagen, meist einen Mercedes, damit bis zu fünf Gäste plus Gepäck Platz haben. Im Buchladen von Frau Wuttke bucht und bezahlt Friederike Wolter die Fahrt nach Köln und retour.
Heute klingelt der Wecker schon um fünf Uhr morgens, um sechs Uhr ist Abfahrt. Oder um acht oder erst um zehn. Je nachdem, ob der Fahrer zuerst Friederike Wolter abholt oder die anderen Fahrgäste. 1967 funktioniert die Mitfahrzentrale, wie wenn man heute einen neuen Telefonanschluss bekommt. Der Techniker kommt nämlich auch nicht zu einer bestimmten Uhrzeit, sondern in einem Zeitfenster von mehreren Stunden.
Dafür werden die Mitfahrer bequem von zu Hause abgeholt. So muss Friederike Wolter ihren schweren Koffer nicht durch die halbe Stadt schleppen, sondern lässt ihn vom Fahrer aus dem dritten Stock nach unten tragen. Der Nachteil daran ist, dass sie meist sehr lange warten muss. Denn bis der Fahrer nach Tegel, Dahlem oder Neukölln gedüst ist, bevor er bei ihr in Schöneberg vorbeifährt, vergehen leicht zwei bis drei Stunden.
Ihren dunkelblauen Lederkoffer hat sie schon gestern gepackt. Gleich nach dem Zähneputzen verstaut sie ihren Waschbeutel und zurrt die Lederschnallen fest. Es ist fünf vor sechs Uhr morgens, Friederike Wolter ist startklar. Gestern hat sie sich extra noch ein Kreuzworträtselheft gekauft. Die Fahrt nach Köln wird dauern. Mit den Grenzkontrollen vor und nach der Transitautobahn durch die DDR wird sie acht bis zehn Stunden brauchen.
Aber Friederike Wolter kennt das und hat reichlich Verpflegung in eine Plastiktüte gepackt: vier Bananen, vier Äpfel, eine Thermoskanne Tee, zwei Flaschen Wasser und ein Dutzend Stullen. Verhungern wird sie nicht, so viel steht fest. Mittlerweile ist es halb acht Uhr morgens, schon anderthalb Stunden wartet sie. Doch Unruhe ist bei ihr nicht zu spüren. Seit Jahren benutzt sie die Mitfahrzentrale von Westberlin nach Köln, erst einmal holte sie der Fahrer sofort um sechs Uhr morgens ab. Meistens musste sie zwei Stunden auf ihn warten. Also setzt sie noch mal Wasser am Herd auf und gießt es dann durch einen Filter voller Kaffeepulver.
Eine Stunde später schiebt sie die Gardinen zur Seite und späht auf die Straße. Kein Mercedes weit und breit. So langsam könnte der Fahrer aber mal kommen. Zweieinhalb Stunden schon. Friederike Wolter zieht sich ihren Mantel an und klingelt beim Nachbarn gegenüber. Der junge Mann ist Student, um halb neun Uhr morgens ist er sicher noch zu Hause. Der soll ihr schon mal den Koffer nach unten tragen. Das spart Zeit, weil der Fahrer das dann nicht mehr erledigen muss. Nach einer Minute öffnet der Student die Wohnungstür und blinzelt Friederike Wolter verschlafen an. Sie hat ihn definitiv gerade aus dem Bett geholt. »Junger Mann, seien Sie so freundlich, und tragen Sie mir bitte meinen Koffer nach unten.« Friederike Wolter schaut ihn ernst an. Widerstand ist zwecklos.
Dem Studenten bleibt gar nichts anderes übrig, schließlich will er nächste Woche ein paar Freunde vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund zu sich einladen. Dort wollen sie beratschlagen, wie sie am besten gegen den Berlin-Besuch des Schahs von Persien in ein paar Wochen demonstrieren können. Bei dem Treffen werden sie
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