Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
schließt die Tante sie in die Arme, dann überreicht Friederike Wolter ihr den Blumenstrauß und die Pralinen. Nacheinander stopft sich Tante Wiltrud die feinen Schokoladenstücke in den Mund. Je mehr Schokolade sie isst, umso ruhiger wird sie. Die Kakaobohnen tun ihre Wirkung.
Noch auf der Couch schläft Tante Wiltrud vor Erschöpfung ein. Das kann ich ihr beim nächsten Mal nicht mehr antun, denkt sich Friederike Wolter. Demnächst wird sie mit dem Zug fahren. Der ist zwar teurer, aber dann weiß Tante Wiltrud wenigstens auf die Minute genau, wann Friederike Wolter am Hauptbahnhof in Köln ankommt. Denn dass die Bahn pünktlich ist, darauf kann man sich 1967 noch verlassen.
Mit Töpferkursen oder Computerseminaren haben Mitfahrer rein gar nichts am Hut: Wenn in einem Mitfahrgebot im Internet das Kürzel »VHS« auftaucht, dann ist nicht von einer Volkshochschule die Rede. »VHS« bezieht sich auf den Fahrpreis, er ist »Verhandlungssache«. Fahrer und Mitfahrer einigen sich erst im Auto darauf, wie viel die Fahrt kostet. Je mehr Leute mitfahren, desto billiger der Preis. Oft taucht das Kürzel in den Inseraten aber erst gar nicht auf. Stattdessen gibt der Fahrer einen Fixpreis an. Wer ihm dann für die Fahrt zusagt, der akzeptiert damit auch den angegebenen Fahrpreis.
Für Samstag hat sich Veronika in Berlin wieder das Auto vollgemacht – mit drei Franzosen: zwei Männern maghrebinischer Herkunft und einer dunkelhäutigen Frau. Mit einem von ihnen hat sie vorher die Fahrt und den Preis am Telefon vereinbart. Er spricht passables Deutsch, die beiden anderen verstehen nur Französisch.
Ein wenig klein ist ihr Opel Corsa schon, das muss Veronika zugeben. Aber für drei Mitfahrer ist ausreichend Platz. Sie hätte locker noch eine vierte Person mitnehmen können, so viele Anrufe hatte sie bekommen. Aber drei Leute hinten, das ist dann doch zu eng. Die drei Franzosen haben zwei große Rollkoffer und eine Tasche. Ganz schön viel Gepäck. Trotzdem schafft es Veronika irgendwie, die Trolleys zusammen mit ihrem eigenen Rucksack im Kofferraum unterzubringen. Die Tasche stellt sie zwischen die Frau und den einen Mann auf der Rückbank.
Für Veronika ist es eine ruhige Fahrt. Die drei Franzosen unterhalten sich ununterbrochen miteinander, mit ihr spricht niemand. Aber das stört die Fahrerin nicht. Labert sie wenigstens niemand voll. Veronika hat das Wochenende schon genug geredet, weil sie Probleme mit ihrem Freund hat. Er beklagt sich, dass sie sich so selten sehen. Ist ja auch nicht so einfach: Sie studiert in Freiburg, er arbeitet in Berlin. Das sind über 800 Kilometer – zu weit, um sich jedes Wochenende zu sehen. Alle drei Wochen fährt sie nach Berlin, oder er kommt zu ihr. Logisch, dass das für eine Beziehung nicht optimal ist.
Nach einer Stunde merkt Veronika, wie der Mann auf dem Beifahrersitz unruhig hin und her rutscht. Es ist ihm zu eng. Er muss mindestens 1,95 Meter groß sein, jedenfalls hat er unfassbar lange Beine. Mit den Knien stößt er am Handschuhfach an. Sein Kumpel hinten ist nicht viel kleiner. Seine Kniescheiben spürt Veronika, wenn sie sich im Fahrersitz zurücklehnt. Für zwei so große Männer ist ihr Auto tatsächlich zu klein. Bequem ist jedenfalls was anderes, das merkt die Fahrerin. Also beschließt sie, den Fahrpreis für die Mitfahrer zu senken. Ausgemacht waren 35 Euro pro Person, sie will auf 30 Euro runtergehen.
Doch dann hört sie, wie sich die drei Franzosen über Berlin und Deutschland unterhalten. Auf dem Gymnasium hatte sie Französisch als Leistungskurs, danach ein Jahr Studium in Toulouse. Sie versteht fast alles, was die drei sprechen. Doch was sie hört, gefällt ihr ganz und gar nicht. Die drei lästern aufs übelste. Die deutschen Frauen seien alles Nutten, sagt der Beifahrer. Anstatt sich vernünftig anzuziehen, hätten sie billige Miniröcke an – wie Prostituierte. Sein Kumpel pflichtet ihm bei. Ihn stört am meisten, dass die Deutschen so unfassbar geizig und spießig seien. Das habe er in Berlin sofort gemerkt. Die Frau fühlt sich von allen Deutschen diskriminiert. Sie hassten alle Schwarzen, seien Rassisten und Antisemiten. Gut, dass sie bald wieder in Frankreich sind, da sind sich alle drei einig.
Veronika meint nicht recht zu hören. Die drei sitzen bei einer deutschen Frau im Auto und sind so dreist, aufs heftigste über Deutschland und seine Einwohner zu schimpfen? Glauben die etwa, dass in diesem Land niemand Französisch versteht? Offenbar.
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