Teufels Küche
zusätzliche Verpflegung eingetauscht hatte. Citron sah einen langen Augenblick lang auf die Uhr, nahm sie dann aus dem Etui und streifte sie über sein linkes Handgelenk. Noch ehe er sich bei seiner Mutter bedanken konnte, fragte sie: »Wie lange ist es jetzt her? Fünf Jahre oder sechs?«
»Sechs, glaube ich.«
»Du hättest schreiben können.«
»Hätte ich.«
»Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Das tut mir leid.«
»Ich nehme nicht an, daß ich dir eine wirklich gute Mutter gewesen bin, oder doch?«
»Nein«, stimmte Citron zu, »nicht besonders, wenn ich mit zweiundvierzig auch nicht mehr so recht einsehe, ob das noch wichtig ist.«
»Du hast mir aber nie verziehen, oder?«
»Was?«
»Daß ich dich den Krieg über zu den Gargants abgeschoben habe.«
Citron zuckte mit den Achseln. »Du mußtest diese vielen Deutschen umbringen, und als ich dann fünf war und alt genug, irgend etwas wahrzunehmen, mochte ich die Gargants sehr gern. Sie hatten eine Menge Kühe.«
»Aber später, als du sieben warst.«
»Du meinst England?«
»Sie galt als sehr gute Schule.«
»Das war sie, aber ich sprach mit einem Akzent wie ein französischer Kellner, und ich habe sie auch vermißt.«
»Die Gargants?«
»Die Kühe.«
»Ich möchte es wiedergutmachen, Morgan.«
»Jetzt?« Er machte eine Pause. In die Verwunderung auf seinem Gesicht mischte sich Argwohn. »Wozu denn?«
Sie lächelte. »Zur Versöhnung.«
»Was ist dein wahrer Grund, Gladys?«
»Du bist mein Sohn.«
»Ich bin nur irgend jemand, dem du im Lauf der Jahre ein paarmal begegnet bist. Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Hast du versucht, dich zu verstecken?«
»Nein.«
»Craigie Grey erwähnte deinen Namen gegenüber jemand, der ihn einem anderen gegenüber erwähnte, der ihn mir gegenüber erwähnte. Ich habe seit über einem Jahr versucht, dich zu finden – unermüdlich, seit diese Pressemeldungen aus Paris gekommen waren. Ich habe sogar mit einer Miss Tettah von Amnesty International in London gesprochen, aber alles, was sie wußte, war ein Postfach in Venice. Dann kamen wir diesem jungen Mann aus Provo auf die Spur.«
»Dem Mormonenmissionar.«
»Er erzählte uns die Geschichte von der Uhr. Er sagte, du wärst ein Heiliger.«
»Die Mormonen waren immer auf Heilige versessen.«
»Er sagte, du hättest ihm das Leben gerettet.«
»Er hat übertrieben.«
Sie nahm einen vergoldeten Brieföffner in die Hand und drückte mit der scharfen Spitze versuchsweise gegen ihren Daumenballen. »War er wirklich ein Kannibale, wie alle behaupten? Oder war das nur französische Propaganda?«
»Warum fragst du?«
Sie zuckte wieder mit den Achseln. »Es wäre eine Geschichte für unser Blatt.«
»›Diktator verspeist menschliche Innereien‹ stimmt’s?«
Sie legte den Brieföffner hin. »Wir bedienen unsere Leser«, sagte sie. »Wir müssen um ihre Aufmerksamkeit mit dem Fernsehen konkurrieren. Deshalb müssen unsere Beiträge etwas provokativ sein.«
Citron sah sich in dem großen Büro um. »Dir scheint es nicht ganz schlecht zu gehen.«
»Sie bezahlen mir hundertundfünfundzwanzig im Jahr, falls du es wissen willst. Dieser junge Mann, den ich nach dir geschickt habe?«
»Er ist reizend.«
»Er ist auch das jüngste Mitglied in unserem Redaktionsstab. Ich bezahle ihm sechzig im Jahr. Hauptsächlich wegen seiner absolut überwältigenden Quellen.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
Sie stand auf, kam um den Schreibtisch herum, blieb gegen ihn gelehnt stehen und blickte auf ihren Sohn hinab. »Ich bezahle dir fünfzigtausend für deine Geschichte, unter deinem Namen.«
»Das ist sie nicht wert.«
»Wir würden sie ein bißchen aufpolieren.«
Citron schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich könnte noch fünftausend drauflegen. Das wäre aber das Maximum.«
»Tut mir leid.«
Sie ging um den Schreibtisch zurück und setzte sich wieder. »Wir haben bereits ein Vermögen dafür ausgegeben, Morgan. Es haben sich einige interessante Aspekte ergeben. So gelang es uns zum Beispiel vor drei Monaten, jemand in das Gefängnis einzuschleusen. Ein Aufseher in der section d’étranger stand mit einer lächerlich niedrigen Pension vor dem Ruhestand. Er verkaufte uns ein faszinierendes Gerücht – wie der Kaiser-Präsident ausländische Häftlinge mit Menschenfleisch ernährt hat.«
»Ich bin sprachlos«, sagte Citron.
»Nein, das bist du nicht. Bestätige es, und ich kann mein Angebot auf fünfundsiebzigtausend erhöhen.«
»Für ›Mein Sohn, der
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