Teufelsberg: Roman (German Edition)
werden.«
Er hörte das Gesagte noch einmal ab, seine Stimme klang müde und sachlich. Er löschte den letzten Teil der Aufnahme und verbesserte den Fehler: »Kann den Verlust der Tochter nicht verarbeiten. Doxepin muss erhöht werden.«
Wie immer war es schon spät, als er sich auf den Heimweg machte. Die Prinz-Handjery-Straße war nur schwach beleuchtet. Das nasse Kopfsteinpflaster glänzte, die weißen Markierungen an den Bäumen flackerten im Scheinwerferlicht. Sein Haus lag am Ende der Straße, ein Glasbungalow zwischen schattigen Villen. Im Garten wuchsen hohe Bäume, darunter Moos. Die dunklen Holzdecken im Haus hatte seine Frau weiß und grau streichen lassen. Sie schlief schon, als er er nach Hause kam. Er war etwas hungrig und aß in der Küche den Marmorkuchen vom Sonntag, stehend und ohne Licht zu machen. Danach ging er in sein Arbeitszimmer, klappte seinen Laptop auf, öffnete die Datei mit dem Namen »Seele« und sah auf die große, weiße Fläche, die winzige Körnung des Plasmaschirms und den grauen Steg des Textfeldes. Ihm fiel auf, dass die Datei die gleichen Farben wie sein Haus hatte. Er trommelte mit den Fingern sanft auf die Tasten, ohne sie dabei einzudrücken. Schließlich begann er zu schreiben.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zur philosophischen Sonntagsrunde. In der Vergangenheit konnten wir international renommierte Kollegen aus der Medizin, der Politik, der Soziologie, der Kunstwelt und der Philosophie für uns gewinnen, und ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass Sie heute mit mir vorliebnehmen müssen. Sie alle kennen wohl den Witz: Überall in Deutschland baut man neue Irrenhäuser, eins in München, eins in Hamburg, und Berlin wird überdacht.«
Er schmunzelte über den Einstieg, das Publikum würde lachen. Er redete gern, aber er war kein großer Schreiber. Das Schriftliche, fand er, machte alles umständlich. Man konnte nicht bei einem Gedankengang bleiben; hinzu kamen Zitate, Fußnoten, Exkurse, Rückblicke, Ausblicke, Querverweise, der ganze sperrige Krempel, der eine Idee zu einem Text machte. Außerdem verschlang die Schrift so vieles, den Klang, Betonungen, Gefühle, Gerüche, und gab es nur bruchstückhaft wieder frei. Das meiste blieb in ihrer Festlegung verborgen. Eigentlich war die Schrift ein Sumpf. Niemand konnte wirklich wissen, was darin versunken lag.
Am Dienstagmorgen in der Besprechung fühlte Vosskamp sich müde und gereizt. Schwester Nina erzählte viel zu aufgeregt, wie sich die Patienten wieder über Selbstmord unterhalten hatten.
»Wir müssen so was sanktionieren«, schloss sie.
»Sie lassen sich viel zu leicht provozieren«, winkte Vosskamp ab. »Frau Thewes, Ihr Bericht?«
Die Oberärztin hielt ein Käsebrötchen in der Hand, die weiche, gelbe Scheibe lappte über den Brötchenrand.
»Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, dass Sie während der Besprechung frühstücken?«, fragte Vosskamp.
»Das machen wir doch immer so«, sagte die Thewes. »Wir sparen dadurch Zeit.«
»Sollten wir uns nicht lieber auf unsere Patienten konzentrieren statt auf unsere Käsebrötchen?«
Die Thewes sah ihn irritiert an und legte das Brötchen zurück auf den Teller. Sie stupste es ein paarmal mit dem Zeigefinger, bis es genau in der Mitte lag.
»Also, Sylvia Berger war heute schon ruhiger«, begann sie. »Trotzdem wäre zu überlegen, ob wir sie nicht vorübergehend auf die geschützte Station verlegen. Sie wandert da ohnehin schon den ganzen Morgen herum.«
»Sie sagten doch gerade, dass sie schon ruhiger war«, erwiderte Vosskamp.
»Aber das kann jederzeit kippen, und dann schlägt sie sich wieder. Übrigens, unter den Patienten geht das Gerücht um, dass ihr Mann es war, der sie geschlagen hat. Sollten wir das nicht richtigstellen?«
»Schon mal was von Schweigepflicht gehört?«
»Nein«, beeilte sich die Thewes zu sagen, »ich meine ja, also wir sollten Frau Berger darum bitten, es selbst richtigzustellen.«
»Seit wann sind wir für den Patiententratsch zuständig?«
»Ich meine ja nur, weil doch Frau Berger ihrem Mann die Schuld an der Krankheit gibt, dass es vielleicht nicht gut ist, wenn jetzt auch noch die ganze Station gegen ihn ist. Das wird es schwerer für sie machen, den Realitätskontakt wiederherzustellen.«
»Wir dürfen Frau Berger nicht noch mehr unter Druck setzen. Sie braucht Ruhe, Zeit und Medikamente. Was kriegt sie?«
»Abends vierhundert Milligramm Quetiapin, morgens
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