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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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hatte nicht nur den Südturm zerstört, sondern auch den Rohbau der Anton-Delbrück-Klinik. Die ersten Rettungswagen waren eingetroffen, Sanitäter mit Tragen rannten ins Gebäude.
    Vosskamps Gedanken waren jetzt nicht mehr in ihm, sondern hinter ihm, wie jener befremdliche Blick im Nacken, beim Googeln der Seele, und seine Hände hatten sich verselbstständigt, sie hoben eine Rolle Spanndraht von der Ladefläche eines silbergrauen Pritschenwagens, es waren Plastikhände, in jedem Finger steckte eine Batterie.
    F48.1, dachte er, auch das noch.
    Auch seine Beine waren Plastik, sie näherten sich dem umgestürzten Kran. Dessen Plattform hatte sich zu einer ausgefransten Mauer aufgerichtet, an den Rändern klebten Wurzeln. Die getaute Erde blieb in schweren Brocken an Vosskamps Schuhen hängen, dann verlor er sie im Matsch und ging sockfuß weiter. Er hätte jetzt gern mit jemandem gesprochen, aber ihm fiel niemand ein. Er wusste auch nicht, was er hätte sagen sollen.
    Immer nur geben, dachte er, geben, geben, immer nur weise, aufmerksam, einfühlsam, immer nur stark.
    Er sah zu, wie seine Finger den Draht um eine Stahlstrebe des umgestürzten Krans wanden und festzurrten, dann spürte er, wie sein Körper sich drehte und zurück in Richtung Pritschenwagen ging, mit dem anderen Ende des Drahtes in der Hand. Ihm klangen die Worte von Schwester Nina im Ohr, ihre aufgeregte Stimme, mit der sie die Methode geschildert hatte. Er dachte, die meisten Versuche gehen doch schief, aber dieser ist sicher.
    Langsam wickelte sich der Draht von der Rolle ab. Vosskamp ging in einen Traum hinein, von dem er wusste, dass er wirklich war, und zugleich war Vosskamp in der Wirklichkeit, die er nur träumte, und irgendwo gab es einen zweiten Vosskamp, einen realen, strahlenden, und irgendwo gab es ihn nicht mehr. Er wunderte sich, dass seiner Tat keine Entscheidung vorausging. Andererseits wusste er nicht, wer diese Entscheidung hätte treffen können, denn es gab ja niemanden mehr, der entschied oder wenigstens irgendwas dachte. Es gab nur einen, der seine Schuhe im Matsch verloren hatte und sockfuß durch den Park wandelte.
    Aus der Cardea drängten die Menschen, keiner schrie mehr, und niemand sah ihn. Unten, zwischen den Bäumen, blitzten die Sirenen der Rettungsfahrzeuge, es kamen immer mehr. Auch sie schienen stumm zu sein.
    Vosskamp erreichte den Pritschenwagen. Die Drahtrolle hatte sich zu einem Viertel abgewickelt, er legte sie zurück auf die Ladefläche und fädelte das Ende heraus. Dann schlug er das Rückfenster des Fahrerhäuschens ein und führte das Ende des Drahtes hindurch. Schließlich setzte er sich ans Steuer und schlang sich den Draht um den Hals, dreimal.
    Er hatte keinen Schlüssel für das Auto, darum löste er nur die Bremsen und ließ es den Berg hinunterrollen. Er schätzte die Länge des restlichen Drahtes auf hundertfünfzig Meter, das würde reichen. Seine Füße waren voller Schlamm und kalt, er fühlte sich allein. Er hätte gern Gas gegeben, stattdessen musste er warten, bis der Wagen von selbst Fahrt aufnahm.
    Die Luft war körnig, und er erinnerte sich daran, wie er als Student nach Amerika geflogen war, mit einem Fulbright-Stipendium. Cornelia hatte ihm die Bewerbung geschrieben. Sie hatte ihn auch zum Flughafen gebracht. Als der Flieger losrollte und sich drehte, konnte Vosskamp sie auf der Zuschauerterrasse erkennen, blondgelockt und mit weichen Zügen, zwischen all den Leuten, deren Gesichter in der Ferne zu schwirrenden Pixeln verschwammen. Er konnte sie auch noch sehen, als er schon in der Luft war. Und sogar in Amerika konnte er sie manchmal sehen, als winziges Körnchen der Dämmerung. Er wusste nicht mehr, wann dieses Körnchen verschwunden war. Auf einmal wollte er es wiederfinden, vor sich, zwischen den Schneeflocken. Er dachte, wenn er das Körnchen fände, könnte er alles hinter sich lassen, den Chefarztposten, die Freud-Tinbergen-Gesellschaft, die konzentrische Metapher der Selbstfindung und seine sieben Patienten von der 5A, drei tote, vier lebende, immerhin. Und er würde ins Quasimodo gehen, Jazz hören und einen Bourbon trinken und zwischendurch Cornelia anrufen, und sie würde ihm neue Schuhe bringen, und vielleicht würde er nach Irland ziehen und dort Schafe züchten und endlich Cornelias Gedichte lesen.
    In seiner Brust pulsierte die Leere. Der Draht zwischen dem Kran und seinem Hals war noch immer nicht straff. Er hörte, wie sich die Drahtrolle auf der Ladefläche abspulte. Das

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