Teufelsberg: Roman (German Edition)
dann beugte er sich vor.
»Also, Frau Hofstedt, wir sehen uns Mittwoch in der Visite.«
Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen.
»Alles Gute für Sie. Auf Wiedersehen.«
Beate ging in den Raucherraum. Dort traf sie Lou Reed, die wilde Kapusta und den trippelnden Eugen an. Auch die Frau mit der Naht im Gesicht war da, inzwischen waren die Fäden gezogen, eine rote Strickleiter aus Narbengewebe zog sich über ihre Stirn.
»Wie geht’s?«, fragte Beate.
»Hab Distra gekriegt, gegen das Delirium. Jetzt mache ich hier noch vier Wochen Entzug.«
Beate nickte den anderen zu. Die wilde Kapusta trug heute ein kurzes, gelbes Kleid. Lou hatte die spröden Haare zum Pferdeschwanz gebunden, und in ihrem Gesicht glitzerte kein Make-up mehr. Ihre Augen folgten Beates Händen, die eine Zigarette aus der weißgoldenen Schachtel zogen.
»Lou Reed?«, fragte Beate.
»Ich heiße Louise. Louise Reeder. Ich habe keine Einfälle mehr. Nur noch Gedanken. Die lassen mich also bald raus.«
Beate hauchte ihren Rauch auf den glatten, gelben Kunstharzboden. Der Rauch bewegte sich, aber es regte sich nichts in ihm, kein Marmor aus Zukunft mehr. Jetzt erst erkannte Beate, dass ihr Rauch leer war. Sie rauchte, um etwas zu wollen, so wie sie aß, um zu leben, und sie hatte gelebt, um fortzuleben. Auch ihre Tochter würde rauchen und leben und fortleben, und deren Tochter und deren Tochter. Sie alle waren nichts als kurze, leere Schläuche, durch welche die Unendlichkeit strömte, bis sie zerfielen, und Beate begriff nicht, warum sie sich nach diesem kurzen, leeren Schlauch, der ihre Tochter war, so sehnte.
Als sie am späten Nachmittag in ihr Zimmer zurückging, stand eine neue Patientin am Fenster. Sie hatte dickes, rotbraunes Haar und einen schweren Körper. Sie drückte sich ein blaues Kühlkissen ins Gesicht. Ihre Hände waren gepflegt, und sie trug einen Ehering mit Diamanten und eine schmale, goldene Uhr von Cartier.
»Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin Sylvia Berger.«
»Und ich bin Beate Hofstedt«, sagte Beate. »Du kannst mich Beate nennen. Wir duzen uns alle.«
Sie freute sich, dass sie nicht mehr allein auf dem Zimmer war, und Sylvia schien liebevoll zu sein. Sie bat mit hoher Stimme um Erlaubnis, bevor sie das Fenster kippte. Als sie das Kühlkissen kurz weglegte, sah Beate die Blutergüsse.
»O mein Gott«, entfuhr es ihr. »Wer hat dir das angetan?«
»Wer? Wovon redest du?«
Sylvias Nase war stark geschwollen. Das Gesicht wirkte dadurch kaulquappenartig, aber sie tat so, als wäre nichts geschehen.
»Ich muss mal eben meinen Mann anrufen«, sagte sie, »stört dich das?«
»Aber nein, ich wollte eh eine rauchen.«
Beate griff nach ihren Zigaretten.
Nach ein paar Schritten durch den Flur hörte sie Sylvia schreien: »Warum bestimmst immer du, was wichtig ist?«
Es dämmerte, als sich die Privatpatienten im Wintergarten zur Montagsrunde versammelten. Fünf von ihnen saßen schon auf den Stühlen, die Schwester Nina im Kreis aufgestellt hatte. Sie wuschelte sich durch ihr kurzes, karottenrot gefärbtes Haar und holte die Patienten, die nicht allein kommen konnten, aus ihren Zimmern. Das waren die alte Lotti und der demente Friedrich. Auch er war über achtzig.
Lotti schrie: »Ich falle! Ich falle!«
»Ich halte Sie schon«, sagte Schwester Nina, aber auf dem Behindertenlift zum Wintergarten begann Lotti wieder zu schreien. Als sie eintraf, stützte sie sich schwer atmend auf ihren Rollator. Es dauerte lange, bis sie sich auf den Stuhl gesetzt hatte. Die Adern an ihren Fußgelenken waren geschwollen.
»Das haben Sie gut gemacht, Frau Kaleschke«, sagte Schwester Nina und streichelte ihr über den Unterarm.
Zum Schluss kam der Stationsarzt herbeigeeilt, mit einem Klemmbrett unter dem Arm. Dr. Benjamin Neef war Ende zwanzig, hatte ein weiches, unrasiertes Gesicht und hellbraune, nach vorn gekämmte Haare. Er trug rot-weiße Sneakers und unter dem Kittel ein T-Shirt mit irgendeiner Aufschrift. Er ließ sich auf dem letzten freien Platz nieder und rückte seine Brille zurecht. Das dunkelviolette Modell hatte statt zweier Bügel einen elastischen Rundbogen, der um den Hinterkopf lief. Vorne zwischen den Brillengläsern befand sich ein Magnetverschluss. Neef setzte sich, zog die Gläser auseinander und ließ die Brille nach unten fallen, wo sich die Gläser, vom Magneten angezogen, von selbst wieder schlossen. Die Brille baumelte jetzt um seinen Hals.
»Guten Abend und herzlich willkommen zur
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