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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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Sie mal nicht die leidende Madonna«, schnauzte ein Pfleger.
    Als sie aus der Chirurgie zurückkam, wo ihr ein junger Assistenzarzt die Wunden wieder zugenäht hatte, forderte Pfleger Carsten sie auf, das Waschbecken sauber zu machen. Er stand neben ihr, mit hochgezogenen Schultern und angespanntem Kehlkopf, und sah zu. Sie rieb das Blut mit Toilettenpapier von der Emaille. Es blieben vertrocknete Ränder zurück, sie sahen aus wie versteinerte Würmer. Annika rieb und rieb, das Toilettenpapier zerkrümelte, und die Ränder waren immer noch da. Sie machte mit dem bloßen Finger weiter.
    »Tut mir leid«, murmelte Pfleger Carsten, »aber hier geht es um Selbstverantwortung. Lassen Sie mal, den Rest mache ich mit dem Lappen.«
    Anschließend brachte er sie auf die 5B, die geschlossene Station.
    Die Station war voll besetzt, darum wurde für sie noch ein Bett in ein Vierbettzimmer gequetscht. Die Fenster wiesen zum Innenhof. Die Wände hier waren weiß lackiert, nicht aus glatt geschliffenem, weißgrauem Beton wie drüben auf der 5A. Auch die Schränke und Nachttische waren weiß, ebenso die Bettbezüge, sie hatten kein Emblem. Pfleger Carsten sperrte Annikas Sachen in den Schrank und nahm den Schlüssel an sich.
    »Und wenn ich mich umziehen will?«, fragte sie.
    »Dann sagen Sie der Schwester Bescheid. Sie wissen ja, warum.«
    Sie zog ihre Stiefel aus und legte sich hin, durchs Fenster sah sie die Säulen aus durchsichtigem Kunststoff.
    Die vier Mitpatientinnen lagen auf ihren Betten, eine von ihnen war Muslima, sie trug ein auberginefarbenes Gewand und ein Kopftuch, sie weinte nach ihrem Vater. Die Stühle im Raum waren voller Klamotten, auf den Nachttischen stapelte sich Plastikgeschirr.
    »Nicht so fein wie drüben bei euch«, sagte eine ältere Frau mit bizarr angewinkelten Händen.
    »Ja«, antwortete Annika.
    »Wir haben halt keinen schicken Wintergarten wie ihr in der ersten Klasse. Ich bin Louise Reeder, Lou Reed, alles klar? Ich war Rockstar. Dann haben sie Lou mit Clozapin vertrieben.«
    Sie begann, mit brüchiger Stimme zu summen.
    »Darf ich deine Schuhe anprobieren?«, fragte eine andere Patientin mit einer frischen, dicken Narbe auf der Stirn. Ihr fehlte ein Vorderzahn, und ihre Gesichtszüge waren so verwischt, als hätte jemand versucht, sie wegzuradieren. Sie sprang von ihrem Bett und nahm einen von Annikas Stiefeln in die Hand.
    »Mann, sind die schön! Weiches Leder! Edles Futter! Und dieser Glitzerstein oben gefällt mir! Darf ich die anprobieren? Bitte!«
    »Das wäre mir nicht so recht«, murmelte Annika.
    »Meine Stiefel«, erzählte die Frau, »haben die mir im Obdachlosenasyl geklaut. Alles haben die mir geklaut, ich habe nur noch Plastiklatschen und die Klamotten vom Roten Kreuz. War schlimmer als im Knast. Im Knast, da hatten wir keine Binden. Das war in der DDR. Und das Wasser im Duschraum war dünn, sag ich dir, ich konnte die Höschen nicht sauber kriegen. Hab sie hinter die Wanne gestopft, sie waren voll Blut, bald stank es. Darf ich deine Schuhe anziehen?«
    »Bitte nicht.«
    Die Frau zeigte auf Annikas Verband am Handgelenk.
    »Du hast es getan? Du kommst hier so schnell nicht mehr raus.«
    Die vierte Patientin drehte sich auf ihrem Bett um, und Annika erkannte die wilde Kapusta.
    »Hallo Frau Kapusta!« Annika versuchte zu lächeln. »Wir waren zusammen in der Tanztherapie.«
    Die wilde Kapusta klaubte sich Maskarakrümel aus den Augenwinkeln und betrachtete sie eine Weile auf den Kuppen der gekrümmten Zeigefinger.
    »Du hast tolle Brüste«, sagte sie zu Annika. »Und schöne Haare. Du kommst hier raus. Ich will mir die Haare schwarz färben. Die Stimmen sagen, ich soll nett sein. Zu jedem, zu jedem! Lass uns gehen, Baby, es gibt Essen!«
    Den Speisesaal der 5B hatte seit dem Frühstück keiner sauber gemacht, die Tische waren mit Brotstücken, Zuckerkrümeln und fettigen Fingerabdrücken übersät, dazwischen trockneten Lachen aus Kaffee.
    Die Patienten holten sich Plastikgeschirr von der Ablage, wo auch die Thermoskannen und die Pappschachteln mit den Teebeuteln standen, und warteten vor den Trögen von Gustomat. Gustomat war die Firma, die das Essen auf Rädern an die Klinik lieferte. Die Schlange reichte bis in den Flur. Hier hingen keine Bilder, und die Stühle neben den Zimmertüren hatten zerschlissene Bezüge. Die wilde Kapusta wich Annika nicht mehr von der Seite.
    »Hey, Bulle«, rief sie einem Mitpatienten zu, »deine Jacke ist schön!«
    Der dünne Mann stand vor ihnen

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